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Plädoyer für Geduld und Langsamkeit der Friedenserzieher im Umgang mit sich selbst (und auch mit anderen)

Ein pragmatischer Ansatz
Das alte Neue              

Zu Me-ti sagte ein Schüler: Was du lehrst, ist nicht neu. […] Me-ti antwortete: Ich lehre es, weil es alt ist, d.h. weil es vergessen werden und als nur für vergangene Zeiten gültig
betrachtet werden könnte. Gibt es nicht ungeheuer viele, für die es ganz neu ist?
(Brecht 1967, S. 510)
Zwei Thesen:
„Es hat gar keinen Sinn, Kinder zu erziehen! Sie machen uns doch nur alles nach!“
Jede Erzieherin ist insoweit eine Friedenserzieherin, als sie mit gewaltfreien Mitteln und auf friedliche Weise erzieht.
Daraus ergeben sich zunächst zwei Fragen: 1. Welche Grundeinstellungen hat die Friedenserzieherin? und 2. Auf welche Weise kann sie mit gewaltfreien Mitteln und auf friedliche Weise erziehen?
Grundeinstellungen geraten leicht unter Ideologieverdacht. Die humanistische Psychologie geht von der Annahme aus, dass der Mensch im Grunde gut sei und „wachsen“ wolle und dass das Böse in ihm nichts als eine Fehlleitung des Strebens nach Wachstum sei. Gewisse „missionarische Inhalte“ jedoch liegen auch dem „Credo“ aller derer zugrunde, die sich mit der „Verbesserung“ der menschlichen Kommunikation befassen, auch wenn sie den Menschen skeptischer betrachten. Dazu gehören unter anderem:
–          „Man kann den anderen nicht ändern, nur sich selber. Der andere ist anders und wird es immer bleiben. Annäherung ergibt sich aus dem Akzeptieren dieser Grundlage.
–          Sag klar, was du möchtest. Dein Wunsch sei dem anderen Information, nicht Befehl.
–          Es reicht nicht, wenn man den anderen versteht (‚Ich verstehe dich schon, aber …’); man muß ihm auch zeigen, was genau man verstanden hat.
–          Du kannst nur jemanden erreichen – und etwas bei ihm erreichen – , wenn er dir von innen her zuhört. Von innen zuhören kann er aber erst, wenn er sich von dir verstanden fühlt.
–          Streit, Konflikte und Aggressionen müssen der Beziehung nicht abträglich sein. Im Gegenteil, sie bilden die nötige Ergänzung zur Harmonie, die ohne das verbindende Streiten zur ‚Friedhöflichkeit’ verkommt. […]
–          Harmonie, Treue, Vertrauen, lebendiges Miteinandersein – das fällt einem nicht in den Schoß […]. Nimm die Beziehungsarbeit mindestens so ernst wie deine berufliche Arbeit“. (Thomann/Schulz von Thun, S.299 -302)
 
Auf die 2. Frage gibt es eine umfassende Antwort: dem anderen mit „Respekt“ begegnen, d.h. ihm signalisieren, „dass ich bereit bin, mich auf ihn einzulassen“. Wenn ich mich vergewissert habe, dass ich die Auffassungen des anderen erfasst habe, entscheide ich, „ob und wie weit ich sie akzeptieren kann oder ihnen Widerstand entgegensetzen muss.“ (Bernhard Nolz)
 
Ich beschäftige mich hier  nur mit dem ersten Teil, nämlich mit dem Respekt bzw. der „Wertschätzung“ (Rogers 1974). Wertschätzung ist eine Haltung, die die Friedenserzieherin ihren Schülern gegenüber einnimmt und die sich in bestimmten Verhaltensweisen niederschlägt: Respekt muss „signalisiert“ werden, um den anderen zu erreichen. „Was trägt dazu bei, dass ich mich ‚wertgeschätzt’ fühle?
–          wenn jemand sich für mich Zeit nimmt,
–          wenn jemand aufmerksam auf mich ist, mich wahrnimmt und nicht beurteilt (weder negativ noch positiv), so dass ich mich nicht auf seine Erwartungen hin ausrichten muss, sondern so sein kann, wie ich bin,
–          wenn jemand mir einen Vertrauensvorsprung einräumt, d.h. weder Bosheit noch Dummheit von mir zu erwarten scheint und
–          wenn jemand mich nicht ändern will.“  (von Heiseler 1984)
Die Voraussetzung für Wertschätzung ist aufmerksame Wahrnehmung. Zunächst einmal muss ich meine eigenen Gedanken und Gefühle aufmerksam wahrnehmen. Ich sehe z.B. einen Fremden und mir fallen „spontan“, d.h. gewohnheitsgemäß, die Vorurteile ein, die ich im Laufe meines Lebens – oft sehr früh – „gelernt“ habe. Ich vergegenwärtige mir diese Vorurteile und stelle sie dann so weit wie möglich zurück. Unmöglich ist es, sie von einem Augenblick auf den anderen einfach abzulegen.  Wenn ich es trotzdem versuche, tappe ich in die Falle, genau das Gegenteil von dem zu tun, was mir mein Vorurteil diktieren möchte – diese Falle kennen wir wohl alle aus eigener Erfahrung. Alles, was ich tun kann, ist, die Vorurteile wahrzunehmen und zurückzustellen. Der zweite Blick, den ich jetzt auf den Fremden werfe, ist schon offener für genauere Wahrnehmung.
Zur Wahrnehmung kann man sich nicht einfach ein für alle Mal entschließen,  sondern sie ist das Ergebnis von Übung. Alles, was wir durch Übung – und nicht durch einmalige Einsicht – lernen, verlangt oft tausendfache Wiederholung und damit sehr viel Geduld und sehr viel Zeit. Die Übung ist darum notwendig, weil wir alte Gewohnheiten durch neue Gewohnheiten ersetzen wollen. Wenn ich mich z.B. jahrzehntelang daran gewöhnt habe, zu viel und das „Falsche“ zu essen, dann brauche ich viele Jahre, um dauerhaft neue Ernährungsgewohnheiten anzunehmen. So langsam geht Umgewöhnen vor sich! Darum möchte ich für Geduld und Langsamkeit der Friedenserzieher vor allem im Umgang mit sich selbst plädieren! Wir lernen (meist) schnell im Kopf, aber langsam im Körper bzw. im Gefühl! Die wichtigste Übung ist die Übung in aufmerksamer Wahrnehmung. Sie nimmt Monate, Jahre oder sogar das ganze Leben in Anspruch.
Den ersten Schritt bei der Übung in aufmerksamer Wahrnehmung mache ich, indem ich, wie schon gesagt, mich meinen eigenen Gedanken und Gefühlen zuwende.
Das klingt leichter, als es ist.
Selten sind Gedanken und Gefühle einfach und eindeutig. Z.B. kann mich etwas wütend machen und gleichzeitig halte ich es für unangebracht, meinen Ärger zu äußern. Thomann und Schulz von Thun (1996) sprechen vom „inneren Team“, das jeder Mensch in sich habe: die vielen Seelen in seiner Brust. Selten nimmt jemand alle die verschiedenen Stimmen in sich (auf einmal) wahr, weil das viel zu verwirrend wäre und alles Handeln blockieren würde. Oft wird eine der Stimmen unterdrückt, geht dann in den Untergrund und richtet von dort aus Verwirrung an. Eine der Aufgaben der Selbstwahrnehmung ist es folglich, die verschiedenen Stimmen in sich wahrzunehmen und dann (mehr oder weniger bewusst) eine Entscheidung zu treffen, welche der Stimmen die Führung übernehmen soll. Wie in einem Team, das aus verschiedenen Menschen besteht, müssen die Stilleren oft durch geduldiges Zuhören ermutigt werden, sich zu äußern. Das nimmt einige Zeit in Anspruch, denn es verlangt die Einübung gewisser Techniken. Dass sich jemand seines inneren Teams bewusst ist, ist eine Vorbedingung der Aufgabe, „echt“ zu sein (Rogers) und infolgedessen „klar“ (Fischer). Wo mehrer Stimmen durcheinander sprechen, weil keine die Führungsrolle bekommen hat, wird es – draußen wie drinnen – keine klare Ausdrucksweise geben.

Ein ebenso wichtiger Aspekt der Selbstwahrnehmung ist die Erkenntnis, dass jedem Menschen zunächst seine eigene Sichtweise als die richtige und/oder (sogar) als die einzig mögliche erscheint. Natürlich weiß heute jede, dass das ein Irrtum ist, und die Formel: „So sehe ich das jedenfalls“ kann wirksam zum Schutz vor Angriffen gebraucht werden. Aber in unserer Wahrnehmung stellt sich unsere eigene Sichtweise – wenn nicht gerade gleichzeitig Zweifel aufkommen – spontan als „richtig“ dar: „So und nicht anders ist es!“ Vielleicht kann uns in dieser Situation die Frage (an uns und/oder andere) weiterhelfen: „Wie kann man das denn noch sehen?“ Jede andere mögliche Sichtweise zerstört ja den Unfehlbarkeitsanspruch, den wir zunächst unmittelbar erheben möchten. Dass uns zunächst nur die eine Sichtweise richtig erscheint, gibt uns die Möglichkeit, einen Standpunkt zu vertreten. Wäre es anders, könnten wir uns nicht eindeutig ausdrücken, sondern würden uns u.U. gleich im selben Augenblick widersprechen. Das wäre als Ausgangspunkt einem Gespräch sicherlich nicht förderlich.
Die Selbstwahrnehmung hat also (wenigstens) zwei Aspekte: Ich nehme wahr, welche verschiedenen – oft einander widersprechenden und/oder einander behindernden – Gedanken und Gefühle in einer gegebenen Situation in mir vorkommen. Und: Ich nehme wahr, dass das, was ich denke und fühle mir (zunächst einmal) als die einzige Möglichkeit des Denkens und Fühlens erscheint.
Erst wenn ich beides wahrgenommen habe, kann ich der Situation angemessene Folgerungen daraus ziehen: Ich kann mich erst dann bewusst entscheiden, welcher Gedanke bzw. welches Gefühl die Oberhand bekommen und den Ausdruck bestimmen soll. (Dass die anderen Mitglieder des inneren Teams sich auf nonverbale Weise ausdrücken, ist zu erwarten und {spätestens} bei Nachfrage zu klären.) Meine Folgerung aus der Erkenntnis meines – gut begründeten – Unfehlbarkeitsanspruches kann sein, dass ich andere dazu einlade, meine Sichtweise zu hinterfragen.
Wenn die Friedenserzieherin sich viel Zeit für die Einübung in diese beiden Aspekte der Selbstwahrnehmung genommen hat, ist sie viel besser für den zweiten Schritt „gerüstet“: die Übung der aufmerksamen Wahrnehmung ihres Gegenübers (Menschen, Dinge, Situationen). Zuerst wähle ich die „Totale“: Ich nehme die Situation als Ganze so weit wie möglich wahr. Dabei scheint es sinnvoll zu sein, dass ich mich frage, wie das Bild, das sich mir darstellt, beschaffen ist: Welche Rolle spielen z.B. meine Erinnerungen, Erfahrungen, Bedürfnisse und Absichten oder Wünsche bei meiner Wahrnehmung der Situation? Dann „zoome“ ich mich an die Person(en) heran, um die es in der Situation geht. Wenn ich die nötigen Informationen besitze, sollte ich mir zunächst den Zusammenhang vorstellen, in dem die Person, mein Gegenüber, steht: Spricht sie z.B. nur für sich selbst oder im Auftrag oder stellvertretend für andere? Wenn ich diese Informationen nicht habe und mir Zeit zur Verfügung steht, kann ich danach fragen. Anschließend versuche ich die Person „aufmerksam wahrzunehmen“. Dabei mache ich mir zunächst einmal die Assoziationen klar, die mir zu ihr einfallen, z. B. Vorurteile (s.o.). Ich sehe genau hin und werde mir bewusst, dass ich das, was ich sehe, zu nicht mehr als zum Aufstellen einer Hypothese über die Person gebrauchen kann.
Respekt für andere bzw. Wertschätzung anderer ist sowohl Voraussetzung als auch Folge des aufmerksamen Wahrnehmens. Voraussetzung ist er insofern, als ich allgemein Wertschätzung für andere Menschen empfinden muss, um einen einzelnen meiner Aufmerksamkeit für wert zu halten. Als Folge ergibt sich die Wertschätzung für diesen einen besonderen Menschen, dem ich meine Aufmerksamkeit gewidmet habe. Dass Wertschätzung, Interesse und selbst  Zuneigung  durch aufmerksame Wahrnehmung sogar zu einem Gegenstand entstehen bzw. wachsen können, kann jede selbst ausprobieren: Sie nehme sich das Blatt eines Baumes, ein Stück Moos, einen Stein oder etwas Ähnliches und versenke sich für fünf ganze (lange?) Minuten in seine Betrachtung. Das Ergebnis wird jede erstaunen, die das zum ersten Mal erprobt. Die Wirkung der aufmerksamen Wahrnehmung eines Menschen steht der Wirkung der aufmerksamen Wahrnehmung eines Gegenstandes in nichts nach, im Gegenteil! Bei aufmerksamer Betrachtung ist „einfühlendes Verständnis“ (Rogers 1974) nicht fern.
Beim nächsten Teilschritt betrete ich gut bearbeiteten Boden, wenn ich mich zuvor ausgiebig im Zuhören und darin geübt habe, das, was ich verstanden habe, der Sprecherin als Feedback anzubieten. Für diesen Teilschritt stellt die humanistische Psychologie (Rogers, Gordon, Gesprächspsychotherapie) umfangreiches Übungsmaterial zur Verfügung. Um es in der „Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte“ (Tausch 1974) zu einiger Fertigkeit zu bringen, bedarf es ebenfalls eines sehr umfangreichen Trainings. Allerdings bin ich nicht nur mit dem Einüben ungewohnter Verhaltensweisen beschäftigt, sondern ich habe auch umzulernen – was bekanntlich schwerer als neu lernen ist. Schließlich habe ich gelernt, dass loben, ermutigen, trösten und Rat geben „positive“ Verhaltensweisen seien. Das soll nun plötzlich nicht mehr gelten, weil sie – nicht anders als tadeln, herabsetzen und das scheinbar neutrale (und so notwendige!) Beurteilen – (angeblich – so Gordon)  Gespräche
blockieren. Und tatsächlich: Lobe ich eine, dann lässt sie sich (leicht) von ihrem eigenen Kurs abbringen, um mir einen Gefallen zu tun und noch einmal gelobt zu werden. Ermutige ich und gebe ich einen Rat, reizt das womöglich zum Widerspruch oder hemmt jedenfalls den sonst eher kreativen Gedankenfluss meines Gegenübers.
Bei allem hier Genannten handelt es sich lediglich um die aufmerksame Wahrnehmung meiner selbst und meines Gegenübers, also nur um eine – allerdings nicht zu überspringende! – Vorstufe zur eigentlichen Arbeit einer Friedenserzieherin: dem Einüben von Konfliktbearbeitungstechniken. Wie so oft ist auch hier der längere beschwerliche Weg durch Täler und über Gebirge schließlich der kürzere: Die Wahrscheinlichkeit, das Ziel zu
erreichen anstatt abzustürzen, ist dabei größer.
Trainingskurse für Friedenserzieher können zur Erkenntnis der Teilnehmer beitragen, welche Verhaltensweisen für einen friedlichen Umgang miteinander förderlich sind, und sie können einen Anfang in der Einübung solcher Verhaltensweisen bilden. Keineswegs sollten die Veranstalter die Illusion nähren, dass Kursteilnehmer, etwa in einem 8-tägigen Kurs, diese Verhaltensweisen „mal eben“ trainieren und dann anwenden könnten. Dazu bedarf es großer Geduld und eines großen Zeitaufwandes der Teilnehmer, weil jede einzelne sich über einen langen Zeitraum in ihrem privaten und beruflichen Alltagsleben nur selbst in die von ihr als förderlich erkannten Verhaltensweisen einüben kann. Das mag manch eine erschrecken, aber es sollte sie keineswegs abschrecken, sondern zur Geduld einladen und ermutigen.
 
Herkunft der zitierten Texte
Brecht, Bertolt, Gesammelte Werke 12. Prosa 2. Werkausgabe edition suhrkamp Frankfurt am Main 1967.
Fischer, Dietrich, Nonmilitary Aspects of Security: A Systems Approach. Unidir. United Nations Institute for Disarmament Research. Dartmouth Aldershot, BrookfieldUSA, Hong Kong, Singapore, Sydney 1993, Kapitel 7.1.1. Deutsche Übersetzung von Ingrid von Heiseler bei SozioPublishing.
Gordon, Thomas, Lehrer-Schüler-Konferenz. Wie man Konflikte in der Schule löst. Hoffmann und Campe (Hamburg 1977, engl. zuerst 1974).
von Heiseler, Ingrid, Ich kann mich in die Lage des andern versetzen. In: Betrifft Erziehung, 17. Jg. Mai 1984, S. 30 – 36.
McConnell, John, Achtsame Mediation. Buddhistische Wege der Konfliktbearbeitung. Deutsche Übersetzung von Ingrid von Heiseler. Internationaler Versöhnungsbund (Minden 2002).
Rogers, Carl, Lernen in Freiheit. Zur Bildungsreform in Schule und Universität. Kösel-Verlag München (1974). Teil II Eine Atmosphäre der Freiheit schaffen. Zwischenmenschliche Beziehung und Förderung des Lernens. S. 104 – 117.
Schulz von Thun, Friedemann, Miteinander reden 3. Das ‚innere Team’ und situationsgerechte Kommunikation. Rororo  Reinbek bei Hamburg 1998, S. 13.
Tausch, Reinhard, Gesprächspsychotherapie, Hogrefe Göttingen 6. Auflage 1974 (zuerst 1960).
Thomann, Christoph, Schulz von Thun, Friedemann, Klärungshilfe. Handbuch für Therapeuten, Gesprächshelfer und Moderatoren in schwierigen Gesprächen. Sachbuch rororo, Reinbek bei Hamburg, 42.-45. Tausend September 1996 (1988).
 
Kleiner Reader zum Themenkreis „förderliche Kommunikation und ihre Voraussetzungen“ (unvollständig)
Originalität
‚Heute’, beklagte sich Herr K., ‚gibt es Unzählige, die sich öffentlich rühmen, ganz allein große Bücher verfassen zu können, und dies wird allgemein gebilligt. Der chinesische Philosoph Dschuang Dsi verfaßte noch im Mannesalter ein Buch von hunderttausend Wörtern, das zu neun Zehnteln aus Zitaten bestand. Solche Bücher können bei uns nicht mehr geschrieben werden, da der Geist fehlt. Infolgedessen werden Gedanken nur in eigner Werkstatt hergestellt, indem sich der faul vorkommt, der nicht genug davon fertigbringt. Freilich gibt es dann auch keinen Gedanken, der übernommen werden, und auch keine Formulierung eines Gedankens, die zitiert werden könnte. Wie wenig brauchen diese alle zu ihrer Tätigkeit! Ein Federhalter und etwas Papier ist das einzige, was sie vorzeigen können! Und ohne jede Hilfe, nur mit dem kümmerlichen Material, das ein einzelner auf seinen Armen herbeischaffen kann, errichten sie ihre Hütten! Größere Gebäude kennen sie nicht als solche, die ein einziger zu bauen imstande ist!’
(Brecht 1967, S. 379f)

MEDIATION? Was ist denn das?

„Wie geht es mit Ihrem Nachbarn, Herr Lüders? Haben Sie den Prozess eigentlich gewonnen?“
„Gewonnen habe ich schon, Frau Becker, aber zu einem Prozess ist es nicht gekommen.“
„Wie denn das?“
„Wir haben uns gütlich geeinigt.“
„Aber Sie waren sich doch spinnefeind, seit Sie sich über die Tannen am Zaun gestritten haben.“
„Stimmt. Freunde sind wir auch heute nicht, aber wir grüßen uns wieder.“
„Ach.“
„Ich wußte ja gar nicht, worum es meinem Nachbarn in dem Streit eigentlich ging. Und er wußte auch nicht, was ich wirklich wollte. Als wir das schließlich rausgekriegt hatten, war es gar nicht so schwer für uns, eine Lösung zu finden.“
„ W e r  hat die Lösung gefunden?“
„Mein Nachbar und ich gemeinsam.“
„Und das soll ich Ihnen glauben? Wie kam’s denn?“
„Unterstützt hat uns eine MEDIATORIN, eine Vermittlerin.“
„Unterstützt?“
„Ja, jemand erzählte mir davon, daß es Leute gibt, die in Streitfällen vermitteln.“
„Das gibt es ja schon immer. Die meisten Leute  allerdings mischen sich lieber nicht ein, wenn sich andere streiten.“
„MEDIATOREN haben eine bestimmte Methode gelernt, wie sie Streitenden helfen können, ihren Streit beizulegen.“
„Aus reiner Menschenliebe?“
„Es ist eine Arbeit wie jede andere auch und wird natürlich bezahlt.“
„Von wem?“
„Von den Streitenden.“
„Aha!“
„Denken Sie mal an die Kosten, die ein Prozeß verursacht! Da ist MEDIATION sehr viel billiger – und am Ende grüßt man sich wieder.“
„MEDIATION – was ist denn das?“
„Ich schrieb meinem Nachbarn einen höflichen Brief, in dem ich ihn fragte, ob wir es nicht mal mit einem Vermittler versuchen sollten. MEDIATION  ist nämlich   f r e i w i l l i g  und geht nur, wenn die Leute, die sich streiten, alle einverstanden sind. Mein Nachbar war zum Glück einverstanden.“
„Da haben Sie wirklich Glück gehabt.“
„Ich weiß. Wir trafen uns bei der MEDIATORIN, mit der wir vorher einen Termin ausgemacht hatten. Da war es richtig gemütlich. Wir wurden sehr freundllich empfangen.“
„Und die hat Ihnen dann zugeredet, dass Sie sich wieder vertragen sollten.“
„Überhaupt nicht! Sie forderte uns auf, nacheinander den Streitfall aus unserer Sicht darzustellen. Als mein Nachbar erzählte, wie er die Sache sah, habe ich schon einiges gehört, was ich vorher nicht geahnt hatte. Danach stellte uns die MEDIATORIN einige Fragen. Ich merkte, wie auch mein Nachbar endlich verstand, worum es mir ging.“
„Friede, Freude, Eierkuchen?“
„Leider noch lange nicht! Wir überlegten uns gemeinsam, was für Möglichkeiten es geben könnte, eine Lösung zu finden, die wir beide akzeptieren würden.“
„Die besten Vorschläge kamen vermutlich von der MEDIATORIN:“
„Durchaus nicht. Mein Nachbar und ich hatten genügend Einfälle, so dass sie sich inhaltlich gar nicht einmischte.“
„Und wie ging es weiter?“
„Wir besprachen alle möglichen Lösungen und entschieden uns dann für
d i e, die uns beiden die beste zu sein schien.“
„Wie lange hat das Ganze denn gedauert?“
Es lief sehr gut, und deshalb kamen wir schon beim zweiten Treffen zu einer VEREINBARUNG.“
„VEREINBARUNG?“
„Wir legten schriftlich fest, wie wir uns die Lösung unseres Streites vorstellten. Da es zum Nachbarschaftsrecht ja Gesetze gibt, ließen wir die VEREINBARUNG  von einem Rechtsanwalt prüfen, ehe wir sie beide unterschrieben.“
„Wer ist denn nun besser dabei weggekommen, Sie oder Ihr Nachbar?“
„Ich habe es ja selbst nicht für möglich gehalten, aber am Ende waren wir beide, mein Nachbar und ich, recht   z u f r i e d e n  mit dem Ergebnis.“
„Und was ist, wenn sich später herausstellt, Ihre Lösung gefällt einem von beiden nicht?“
„Wir treffen uns in vier Wochen noch einmal mit der MEDIATORIN und sprechen darüber, wie es gelaufen ist. Es kann durchaus sein, dass wir an der VEREINBARUNG noch etwas ändern müssen. Das werden wir dann wohl auch noch schaffen, denke ich.“ 
 

Ein paar Gedanken über das „Miteinander-Reden“

Wolfsburg im Dezember 2011

In einer der letzten Klassen beschloss ich, meine Schrift zu „reformieren“. Ich wollte etwas, das ich mir „angewöhnt hatte“, so verändern, dass es mir besser gefiele. Ich hatte also 1. eine Vorstellung von dem, was mir besser gefiel, 2. hielt ich Schrift für veränderbar, da ich meinte, sie beruhe auf Gewohnheit und 3. dachte ich, dass ich durch Üben diese Gewohnheit verändern könnte.
Das gilt, denke ich, für alles, was jemand für eine Gewohnheit (und nicht für Schicksal) hält. Der erste Schritt ist eine Wunschvorstellung, der zweite eine Analyse des Vorhandenen und der dritte ein Plan, das Vorhandene der Wunschvorstellung – zumindest – anzunähern, am liebsten natürlich, sie zu erreichen.
Wie erwerben wir unsere Gewohnheiten? Als Kinder durch Nachahmung.
Die Art wie wir „miteinander reden“ (heute meist Kommunikation genannt) lernen wir durch Nachahmung unserer Eltern. Da können wir Glück oder Pech haben, denn die Kommunikationsgewohnheiten unterscheiden sich individuell durchaus (ein wenig) voneinander. Gemeinsamkeiten gibt es durch gemeinsame Kultur, gemeinsame historische Zeit und gemeinsame soziale Schicht. Kultur: in manchen Kulturen ist Harmonie ein besonders hochrangiger Wert und das beeinflusst also auch die Kommunikation entsprechend. Historische Zeit: Unsere Eltern hatten sicherlich mehr gemeinsame Kommunikationsgewohnheiten als sie mit ihren jeweiligen Urgroßeltern hatten. Schicht: in der Mittelschicht gelten Ohrfeigen nicht als Argumente.
Durch Nachahmung haben wir also Kommunikationsgewohnheiten eingeübt. Eines Tages mögen wir uns dann fragen, ob wir mit dem, was wir gelernt haben, zufrieden sind:
Erreichen wir damit, was wir wollen? Fühlen wir uns dabei wohl? Fühlen wir uns mit anderen verbunden? Haben wir den Eindruck, wir können damit Verbindungen herstellen, die so sind, wie wir sie uns wünschen? Und mit manch einr anderen Frage können wir das Gewohnte „in Frage stellen“.
Nun komme ich also eines Tages zu der Antwort: Nein, das genügt mir nicht! Da ich keine Erfinderin von Rädern bin, sehe ich mich um: Was gibt es denn da so an Angeboten? Welches der Angebote spricht mich an oder entspricht mir womöglich? Ich also stieß zunächst auf Carl Rogers – das war (spätestens) 1976. Bei der Lektüre seiner Bücher hatte ich den Eindruck: Über die Kommunikations-Möglichkeiten, die er beschreibt, wollte ich verfügen! Sie entsprechen genau dem, „was ich schon immer wollte“, von dem ich aber nicht wusste, wie ich es hätte erreichen können! Früh in meinem Leben hatte ich für mich das Lernziel formuliert: Ich möchte einmal sehr viele und vieles verstehen!
Damit war also der erste Schritt getan: Die Wunschvorstellung war gefunden. Auch der zweite Schritt war schnell getan: meine Gewohnheiten waren die und die und ich war nicht mit ihnen zufrieden. Also verändern! Das ist schnell beschlossen und langsam verwirklicht! Ich erinnere mich, dass ich monatelang als einzige Veränderung bemerkte, dass mir meine Gewohnheiten bewusst wurden – nach der Äußerung! „Wieder ‚falsch‘ gemacht!“ Das entmutigte mich aber nicht, da ab und zu auch mal „etwas gelang“. Die Umstellung dauerte, scheint mir heute, etwa ein Jahr. Danach sprach ich eine „neue Sprache“. Es hatte sich auch wie das Erlernen einer neuen Sprache angefühlt. Ich hielt so lange durch, bis sie mir zur „zweiten Natur“ geworden war. Ich hatte sie zur Verfügung, das heißt, ich konnte sie, musste sie aber nicht einsetzen. Vor jede Reaktion schaltete sich ganz von selbst eine kurze Kontrollphase ein: Jetzt so oder so reagieren?
Diese Sprache setzt durchaus nicht voraus, dass die, mit denen ich spreche, sie auch sprechen. Sie verstehen mich und ich kann mir, wenn es mir nötig erscheint, das in meine neue Sprache übersetzen, was sie in meiner alten Sprache gesagt haben. In dem Fall reagiere ich dann nicht auf das, was jemand „gesagt“ hat, sondern auf das, was er meinem Verständnis nach hatte ausdrücken wollen.
Vom Amerikaner Carl Rogers nimmt der Amerikaner Thomas Gordon einige Grundideen und vereinfacht sie so, dass er sie im Rahmen von Kursen und durch Bücher lehren kann. Er fasst sie in drei verschiedene Verhaltensweisen zusammen: Zuhören („aktives Zuhören“), sich direkt ausdrücken („Ich-Botschaften senden“) und Verhalten in bestimmten Konfliktfällen („erfolgreiche Konfrontation“): Ich äußere, „was mich stört“ (1) und nehme die Reaktion des anderen darauf aufmerksam auf (2). Wenn wir beide den Eindruck haben, dass ich seine Reaktion verstanden habe, komme ich auf das, was mich stört, zurück (3).
Einfacher geht es nicht! Wenn einem das erst einmal praktisch und praktizierbar erscheint, kommt die lange Phase der Umgewöhnung! Die sehr lange Phase! Wenn ich mich hier nach den Anteilen frage, die „Theorie“ und „Praxis“ jeweils haben, komme ich auf ein Verhältnis, sagen wir, von einem Anteil Theorie zu vielleicht 300 – oder 365 (s.o). – Anteilen Praxis (im Sinne von engl. practice = üben).
Es ist gelegentlich die Rede von einem „verbreiteten Konflikt-Analphabetismus“. Der Ausdruck stellt sehr gut dar, dass wir den Umgang mit Konflikten, also unser täglich Brot, wie Lesen und schreiben lernen können – und lernen (üben) müssen. Dazu gehört auch das Reduzieren der Häufigkeit von Konflikten durch Zuhören und direktes Sich-Ausdrücken schon im Vorfeld eines möglichen Konflikts.