Statt Kontrolle oder Hilfe: Begegnung auf Augenhöhe. Ein Denkanstoß

„Wir berühren den Saum eines Gewandes, das Verwandtschaft heißt“

In seinem Aufsatz: Warten, dass man willkommen geheißen wird. Lernen, Gast und nicht [Gast-]Geber zu sein erzählt Chico Fajardo-Heflin von seinen und seiner Frau Erfahrungen der letzten Jahre. Sie haben nicht das hohe Ross von Kontrollieren oder „Helfen“ bestiegen, sondern sie wollten Menschen, die es gewohnt sind, als Objekte von Kontrolle und Helfen betrachtet zu werden, als Subjekten auf Augenhöhe begegnen. Chico Fajardo-Heflin geht von der – nicht nur christlich zu begründenden – Gastfreundschaft aus.
Gastfreundschaft wird „Fremden“ erwiesen, wer aber sind Fremde? Chico und Tatjana (so wollen wir die beiden von jetzt an vertraulich nennen) beschlossen, in eine ihrem Wohnort nahe gelegene kleine Stadt umzuziehen, in eine Stadt, die um ihre Existenz kämpft. „Wir brauchten nur unsere [neue] Straße entlangzugehen, damit uns klar wurde, dass in unserer verarmten und ganz und gar ‚schwarzen‘ Stadt nicht etwa unsere Nachbarn, sondern wir ‚Fremde‘ waren.“
Chico gibt uns dann eine geografisch genaue und sehr anschauliche Beschreibung des Ortes: „Ford Heights ist eine kleine, verfallende Stadt etwa 20 Kilometer von Chicago entfernt. Eigentlich ist es eine Vorstadt, ihre laubgrünen Straßen werden von verlassenen und ausgebrannten Häusern gesäumt. Streunende Hunde und Crack-Abhängige streifen dort umher.“ Das Gebiet wird von „einer Müllverbrennungsanlage, einem Schrottplatz, Kornfeldern und einer Ford-Fabrik“ begrenzt und „die Bewohner vegetieren in Armut und Isolation dahin“.
Chico und Tatjana „erwarteten zwar, dass unsere Ankunft Verdacht erregen würde, aber wie sehr sie alle nervös machen würde, das hatten wir nicht geahnt“.
Chico erzählt, wie die Menschen auf ihre Ankunft reagierten: „Kinder, die in Vorhöfen spielten, unterbrachen ihr Spiel und starrten uns an und geräuschwolle Nachbarn senkten die Stimme zu einem Flüstern, als wir vorübergingen. Jedes Mal, wenn wir so kühn waren, eine Unterhaltung in Gang bringen zu wollen, begegnete unserem Gruß ein bleiernes Schweigen. Wohin wir auch gingen, schien sich die Luft mit Spannung zu füllen.“
Chico versucht, das Verhalten der Menschen zu erklären: „Fort Heights ist Fremde gewohnt. Sie dringen mit Dienstmarke und Handfeuerwaffe oder mit einem Lächeln und einer Lastwagenladung Kleider ein.“ Zwar ärgerten sich die Neuankömmlinge über das Verhalten der Bewohner, aber sie hatten gleichzeitig Verständnis dafür, denn „ihrer Erfahrung nach kamen Fremde in die Stadt, um ihnen entweder wehzutun oder ihnen zu helfen, aber nie kam jemand einfach nur, um sie kennenzulernen. Diejenigen, die nicht dachten, wir wären verdeckt ermittelnde Polizisten, behandelten uns wie eine mobile Dienstleistungstruppe. Wenn sie uns auf dem Fußweg sahen, brüllten sie etwas wie: ‚Wann gebt ihr denn die Schulsachen aus?“, ‚Gebt mir ein paar Paprika aus euerm Garten!‘, ‚Komm her und repariere mein Fahrrad!‘
Die Leute bedrängten uns, ihnen Nahrungsmittel zu geben, sie im Auto mitzunehmen, ihre zusammengebrochenen Basketball-Gestelle zu ersetzen und dergleichen. Es waren Leute, die wir nicht kannten, Leute, die durchaus nicht darauf aus waren, uns kennenzulernen. Uns war zum Kotzen zumute.“
Als „Wohltäter“, vermutet Chico, wären er und Tatjana willkommen gewesen. „Aber unsere Herzen sehnten sich nach mehr. Wir sehnten uns nach Beziehung. Nach Freundschaft. Nach Verwandtschaft.” Chico und Tatjana wollten nicht für Gleichberechtigung kämpfen, sondern sie wollten erfahren, „zu wem sie eigentlich gehörten“. „Wir kamen nach Ford Heights und beteten, Gott möge uns und unsere Nachbarn zu einer Familie zusammenfügen.“ Die Erfüllung dieses Gebetes erwies sich als langwieriger, denn sie gedacht hatten.
Chico denkt über das Verhalten Jesu nach. Es scheint im Widerspruch zu den Aussagen im „Weltgericht“ des Matthäusevangeliums (Kapitel 25) zu stehen, in dem denen, die gute Werke verrichtet haben (35 Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war krank, und ihr habt euch meiner angenommen. Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen), das Himmelreich zugesprochen wird. Chico fragt: „Wann hat Jesus die Nackten gekleidet? Den Durstigen zu trinken gegeben? Die Gefangenen besucht? Obdach den Heimatlosen? Soweit wir wissen, hat Jesus die Hungrigen nur ein einziges Mal gespeist.“
Als Antwort erinnert Chico an die Begegnungen Jesu mit Menschen, die diese Menschen verwandelt haben. Sie geschahen, als er Gast und nicht als er Gastgeber war: „Der Zöllner Levi lud ihn zum Abendessen ein [Lk 5,27ff], die samaritische Frau [Joh 4,7ff] schöpfte Wasser für ihn und der auferstandene Christus wurde erst offenbar, nachdem Kleopas und seine Gefährten Jesus als Fremden bei einem gemeinsamen Mahl begrüßt hatten [Lk 24,28ff]. Als Jesus die zweiundsiebzig aussandte, entblößte er sie aller Mittel [Lk 10,1-4] und bewirkte damit, dass sie von Gastfreundschaft abhängig waren. Beides scheint gleich wichtig zu sein: selbst Fremde sein und Fremde willkommen heißen.“
Für Chico und Tatjana war die Ablehnung der Forderungen oder Zumutungen ihrer Nachbarn eine neue Art des Verhaltens, „aber wir holten tief Luft und warteten darauf, als Fremde willkommen geheißen zu werden.“
Und so verhielten sie sich: „Wenn Kinder an unsere Tür kamen und um Essen baten, ließen wir sie hungrig wieder gehen. Wenn alleinerziehende Mütter uns drängten, sie im Auto irgendwohin zu fahren, lehnten wir höflich ab. Als obdachlose Nachbarn auf unserer Außentreppe auftauchten und die Nacht bei uns verbringen wollten, war kein Raum für sie in der Herberge. Wir reparierten keine Fahrräder, boten keinen Freitisch an und gründeten kein gemeinnütziges Unternehmen.“ „Einmal schrien mir einige Jungs über die Straße zu: ‚He, wo bleiben unsere grünen Tomaten?‘, aber ich […] schrie nur zurück: ‚Wir sind nicht eure Speisekammer!‘“
Chico und Tatjana wollten Gemeinschaft und sie wollten nicht die Erwartung erfüllen, dass sie die Schirmherren und die anderen ihre Schutzbefohlenen seien. Sie waren „entschlossen, dieses Paradigma umzukehren“, selbst wenn sie dabei die ewige Seligkeit aufs Spiel setzen sollten, wie sie im „Weltgericht“ versprochen wird.
Da wendete sich schließlich das Blatt. Chico erzählt: „Dann wurden wir eines Tages zum Grillen eingeladen. Kurz darauf zu noch einem. Und bald danach lud uns eine Familie ein, in ihrem Haus das Basketballspiel anzusehen. Wenn sie uns an einer Bushaltestelle [in Chicago] stehen sahen, hielten sie neben uns und boten uns an, uns mit nach Hause zu nehmen. Eine Nachbarin hörte, dass wir keine Waschmaschine hätten, und sagte, wir könnten, sooft wir wollten, ihre benutzen. Wieder ein anderer gab uns eine überschüssige Klimaanlage. Unser unmittelbarer Nachbar Clement brachte uns Essen herüber und die alleinerziehende Mutter Tamara winkte mich eines Tages zu sich und gab mir einen großen roten Mantel. Früher am Tag hatte dort eine Kleiderausgabe stattgefunden und, als sie sah, dass ich nicht dort war, hatte sie für mich etwas herausgesucht, von dem sie meinte, es könnte mir gefallen. Ich habe diesen Mantel noch heute.“
Chico erzählt, es habe viel Zeit gebraucht und es sei schwierig gewesen, „aber als unseren Nachbarn erst einmal klar war, dass wir sie nicht missionieren wollten, kamen sie auf uns zu und behandelten uns wie die verwundbaren Pilger, die wir tatsächlich waren. Jedes Mal, wenn uns unsere Nachbarn nährten, kleideten und willkommen hießen, stieg Heilung herab. Die Rollen gerieten durcheinander und Kasten lösten sich auf. Der Raum öffnete sich: Freundschaft konnte entstehen.“
Chico schreibt den Text sechs Jahre nach ihrem Umzug in die Stadt. Er und Tatjana teilen nun Freud und Leid mit ihren Nachbarn. Allerdings ist „in diesen Beziehungen nicht alles vollkommen: Sechs Jahre gemeinsamen Grillens im Hof können hundert Jahre deformierter Beziehungen zwischen Rassen nicht reparieren.“
Er schließt mit einem Bild: „Wir berühren den Saum eines Gewandes, das Verwandtschaft heißt. Es ist ein Gewand, das Jesus trägt und das uns Heilung bringt. Es ist das Gewand, das er nicht nur als Veranstalter eines Gastmahles, sondern ebenso als Gast trug.“
Tatjana fügt einen kurzen Text hinzu, in dem sie zunächst den Konsumverzicht des Paares und dessen Wirkung darstellt. Sie schließt mit den Worten: „Wir arbeiten gemächlich, um gemächlich leben zu lernen: auf kleine, alltägliche Weise zu lieben und der Bekehrung zu dienen. Ganz gleich, wie viel Zeit diese Bekehrung in Anspruch nehmen wird.“

Drei Zitate aus dem Text:

Als „Wohltäter“, vermutet Chico, wären er und Tatjana willkommen gewesen. „Aber unsere Herzen sehnten sich nach mehr. Wir sehnten uns nach Beziehung. Nach Freundschaft. Nach Verwandtschaft.”

Chico und Tatjana wollten Gemeinschaft und sie wollten nicht die Erwartung erfüllen, dass sie die Schirmherren und die anderen ihre Schutzbefohlenen seien. Sie waren „entschlossen, dieses Paradigma umzukehren“.

Chico schreibt den Text sechs Jahre nach ihrem Umzug in die Stadt. Er und Tatjana teilen nun Freud und Leid mit ihren Nachbarn. Allerdings ist „in diesen Beziehungen nicht alles vollkommen: Sechs Jahre gemeinsamen Grillens im Hof können hundert Jahre deformierter Beziehungen zwischen Rassen nicht reparieren.“