Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler From Yeravda Mandir (Ashram Observances)
Am
6. März 1932 schreibt Gandhi in seinem VORWORT:
„Während
meines Aufenthaltes 1930 im Zentralgefängnis in Yeravda Central Prison schrieb ich jede Woche einen Brief an die
Bewohner des Satyagraha-Aschrams. Die
Briefe enthielten eine oberflächliche Prüfung der wichtigsten Grundsätze im
Aschram. Da der Einfluss des Aschrams schon die geographischen Grenzen
überschritten hat, wurden Abschriften der Briefe zur Verteilung vervielfältigt.
Ich schrieb sie in Gujarati. Übersetzungen in Hindi und andere indische
Sprachen und auch ins Englische wurden verlangt.“ Über die Übersetzung Shri
Valji Desais ins Englische schreibt Gandhi. „Ich bin die Übersetzung sorgfältig
durchgegangen und habe mir einige Passagen vorgenommen, um meine Meinung mehr
nach meinem Geschmack herauszustellen.“
Translated from Gujarati by: Valji Govindji Desai. Printed & Published by: Jitendra T Desai Navajivan Mudranalaya Ahmedabad 380 014 (INDIA) [ohne Jahr] https://www.mkgandhi.org/ebks/yeravda.pdf
Yerwada
Central Jail: Bekanntes Hochsicherheitsgefängnis in
Yerwada,
Pune,
in Maharashtra,
größtes Gefängnis in Maharashtra, eines der größten in Südasien. Mehr als 5.000
Gefangene (2017), viele Baracken und Sicherheitszonen.
Gandhi wurde im Januar 1932 verhaftet. Während seiner
Einkerkerung begann er am 20. September desselben Jahres ein unbegrenztes
Fasten aus Protest gegen den Communal Award, ein Gesetz, nach dem die Scheduled Caste und andere Minderheiten (Muslime, Sikhs, indische
Christen, Anglo-Inder und Europäer) getrennte Wahlbezirke bekommen sollten. Er
brach das Fasten ab, nachdem er am 24. September eine Vereinbarung, Poona-Pakt
genannt, mit dem Führer der unterdrückten Klassen Dr. Ambedkar geschlossen hatte.
Gandhi wurde im Mai 1933 aus dem Gefängnis entlassen.
„Wenige Tage nach seiner Rückkehr aus Europa wurde
‚der Unbequeme‘ am 4. Januar 1932 auf Anordnung des Generalgouverneurs
und Vizekönigs inhaftiert. Man
befürchtete, dass Gandhi neue Aktionen gegen die nKolonialmacht einleiten
würde. Mit ihm wurde die Führungsspitze der Kongresspartei (INC) festgesetzt.“
INHALT
An den Leser …………………………………………………………………. 3
Bemerkungen des Übersetzers ins Englische …………………….. 3
1. Wahrheit ………………………………………………………………….. 3
2. Ahimsa oder Liebe
……………………………………………………. 5
3. Brahmacharya oder Keuschheit
………………………………… 6
4. Den Gaumen beherrschen …………………………………………. 7
5. Nicht stehlen ……………………………………………………………… 8
6. Nicht besitzen oder Armut ………………………………………… 10
7. Furchtlosigkeit ……………………………………………………………. 11
8. Beseitigung der Unberührbarkeit ……………………………….. 12
9. „Brotarbeit“ ……………………………………………………………….. 13
10. Toleranz, d. h. Gleichwertigkeit der Religionen – I ……. 14
11. Toleranz, d. h. Gleichwertigkeit der Religionen – II …… 15
Während
meines Aufenthaltes 1930 im Zentralgefängnis in Yeravda Central Prison schrieb ich jede Woche einen Brief an die
Bewohner des Satyagraha-Aschrams. Die
Briefe enthielten eine oberflächliche Prüfung der wichtigsten Grundsätze im
Aschram. Da der Einfluss des Aschrams schon die geographischen Grenzen
überschritten hat, wurden Abschriften der Briefe zur Verteilung vervielfältigt.
Ich schrieb sie in Gujarati. Übersetzungen in Hindi und andere indische
Sprachen und auch ins Englische wurden verlangt. Shri Valji Desai hat sie sehr
gut ins Englische übersetzt. Da er wusste, dass ich während meines
gegenwärtigen Gefängnisaufenthaltes vergleichsweise viel freie Zeit hatte,
schickte er mir seine Übersetzung zur Durchsicht. Ich bin sie sorgfältig
durchgegangen und mir einige Passagen vorgenommen, um meine Meinung mehr nach
meinem Geschmack herauszustellen. Ich brauche kaum hinzuzufügen, dass ich, wenn
ich den Text neu für den englischsprachigen Leser geschrieben hätte, vermutlich
etwas ganz Neues geschrieben hätte. Aber das wäre über meinen Auftrag
hinausgegangen. Und vielleicht ist es ja ebenso gut, dass auch der Leser der
englischen Übersetzung meine Gedanken so verfolgen kann, wie ich sie für die
Bewohner des Aschrams im Jahr 1930 niedergeschrieben habe. Deshalb habe ich mir
nur die geringste Freiheit gegenüber dem Original genommen.
Zentralgefängnis
in Yeravda 6. März
1932 M.
K. Gandhi
AN
DEN LESER
Ich
möchte den eifrigen Lesern meiner Schriften und anderen, die an ihnen
interessiert sind, mitteilen, dass es mir durchaus keine Sorgen bereitet, wenn
ich inkonsequent zu sein scheine. Bei meiner Suche nach der Wahrheit habe ich
viele Ideen verworfen und viel Neues gelernt. Alt wie ich bin, habe ich nicht das
Gefühl, ich hätte aufgehört, innerlich zu wachsen, oder mein Wachstum werde bei der Auflösung meines
Fleisches aufhören. Worum es mir geht, ist meine Bereitschaft, dem Ruf der
Wahrheit, meines Gottes, von Augenblick zu Augenblick zu gehorchen. Wenn also
irgendjemand irgendeine Inkonsequenz zwischen zweien meiner Schriften findet, täte
er, solange er noch an meine geistige Gesundheit glaubt, gut daran, sich für
die spätere von zwei Äußerungen zum selben Gegenstand zu entscheiden.
Harijan,
29 April, 1933. M.
K. GANDHI
Bemerkungen
des Übersetzers ins Englische
(zur ersten Auflage): Ich danke meinem Freund und ehemaligen Schüler Shri
Ramanlal Gokuldas Saraiya für seine wertvolle Hilfe bei der Übersetzung der
ersten drei Briefe und Shri Duncan Greenless für das Lektorieren.
Valji Govindji Desai
(zur
dritten, überarbeiteten Auflage): Dies ist ein Nachdruck der zweiten Auflage,
nur dass einige von meinem Freund Shri Verrier Elwin vorgeschlagene
Veränderungen vorgenommen wurden. Auf meine Bitte hin war er so freundlich, die
Übersetzung durchzugehen. […]
Vasantapanchami V. G. D.
Samvat 2001
1.
WAHRHEIT
Zuerst
behandele ich das Thema Wahrheit, da der Satyagraha–
Aschram seine Existenz dem Verfolgen der Wahrheit und dem Versuch, Wahrheit in
die Tat umzusetzen, verdankt.
Das
Wort Satya (Wahrheit) ist von Sat abgeleitet und das bedeutet „Sein“.
Außer der Wahrheit existiert in Wirklichkeit nichts. Deshalb ist Sat, Wahrheit, wohl der
bedeutungsvollste Name Gottes. Tatsächlich ist es richtiger zu sagen, Wahrheit
ist Gott, als zu sagen, Gott ist Wahrheit. Aber da wir nicht ohne einen
Regierenden oder einen General auskommen, werden die Gottesnamen „König der
Könige“ und „der Allmächtige“ im allgemeinen Gebrauch bestehen bleiben. Wenn
wir jedoch tiefer nachdenken, wird uns klar, dass Sat und Satya die
einzigen richtigen und wirklich aussagekräftigen Namen Gottes sind.
Und
wo Wahrheit ist, ist auch Wissen, das wahr ist. Wo keine Wahrheit ist, kann
kein wahres Wissen sein. Darum wird das Wort Chit, Wissen, mit dem Namen Gottes in Verbindung gebracht. Und wo
es wahres Wissen gibt, ist immer Glückseligkeit (Ananda). Dort hat Kummer keinen Platz. Und wenn Wahrheit ewig ist, so ist Glückseligkeit
von ihr abgeleitet. Darum kennen wir Gott als Satchit-Ananda, als einen, der Selbst Wahrheit, Wissen und
Glückseligkeit ist.
Hingabe
an diese Wahrheit ist die einzige Rechtfertigung für unsere Existenz. All unser
Handeln sollte in der Wahrheit zentriert sein. Wahrheit sollte der Atem unseres
Lebens sein. Wenn der Pilger erst einmal auf diese Stufe gelangt ist, befolgt
er alle Regeln für richtiges Leben ohne Mühe und gehorcht ihnen instinktiv.
Aber ohne Wahrheit ist es unmöglich, irgendein Prinzip oder Regeln im Leben
einzuhalten.
Im
Allgemeinen wird das Einhalten des Gesetzes der Wahrheit nur so verstanden,
dass wir die Wahrheit sprechen müssten. Aber wir im Aschram sollten das Wort Satya, Wahrheit, in viel weiterem Sinne
verstehen. Wahrheit sollte in den Gedanken, in der Rede und im Handeln sein.
Einem, dem diese Wahrheit in ihrer Fülle klargeworden ist, braucht weiter nichts
zu wissen, denn alles Wissen ist notwendig in ihr enthalten. Was nicht in der
Wahrheit enthalten ist, ist keine Wahrheit und deshalb kein wahres Wissen. Und
es kann keinen inneren Frieden ohne wahres Wissen geben. Wenn wir erst einmal
lernen, wie wir diese nie versagende Prüfung der Wahrheit anwenden, werden wir
sofort herausfinden, was wert ist zu tun, zu sehen und zu lesen.
Aber
wie verwirklicht man diese Wahrheit, die man mit dem Stein der Weisen oder der
Kuh des Überflusses[1] vergleichen kann? Die Bhagavadgita
antwortet: durch aufrichtige Hingabe (Abhyasa)
und Gleichgültigkeit gegen alle Interessen im Leben (Vairagya). Und doch, aller Hingabe zum Trotz, mag das, was dem
einen als Wahrheit erscheint, dem anderen als Unwahrheit erscheinen. Aber das
braucht den Suchenden nicht zu irritieren. Wo ehrliches Bemühen ist, wird
verstanden werden, dass das, was verschiedene Wahrheiten zu sein scheinen, wie
die zahllosen und offenbar verschiedenen Blätter desselben Baumes ist.
Erscheint nicht Gott selbst verschiedenen Menschen in verschiedenen
Perspektiven? Und doch wissen wir, dass Er Einer ist. Wahrheit ist jedoch die
richtige Bezeichnung für Gott. Deshalb ist nichts falsch daran, wenn jeder
gemäß seiner eigenen Einsicht der Wahrheit folgt. In der Tat ist eben das seine
Pflicht. Wenn jemand bei der Verfolgung der Wahrheit einen Fehler macht, wird
er automatisch berichtigt. Denn zur Suche nach Wahrheit gehört Tapas, Selbstleiden, in manchen Fällen
bis zum Tod. In der Wahrheit ist kein Platz für auch nur eine Spur von
Eigeninteresse. Bei einer derartig selbstlosen Suche nach Wahrheit kann niemand
für lange Zeit die Orientierung verlieren. Sobald er den falschen Weg
einschlägt, stolpert er und wird dadurch wieder auf den richtigen Weg gebracht.
Darum ist die Verfolgung der Wahrheit wahres Bhakti (Hingabe). Sie ist der Weg, der zu Gott führt. In ihr hat
Feigheit keinen Platz, auch Niederlage hat dort keinen Platz. Sie ist der
Talisman, durch den der Tod zu einer Pforte ins ewige Leben wird.
In
diesem Zusammenhang wäre es gut, über Leben und Beispiel der folgenden Personen
nachzudenken: Harishchandra, Prahlad, Ramachandra, Imam Hasan und Imam Husain, die
christlichen Heiligen und andere. Wäre es nicht schön, wenn wir alle, Jung und
Alt, Männer und Frauen, uns ganz und gar der Wahrheit widmeten, und zwar in allem, was wir in unseren wachen Stunden
tun, ob wir nun arbeiten, essen, trinken oder spielen, bis uns die Auflösung
unseres Körpers eines mit der Wahrheit werden lässt? Gott als Wahrheit ist für
mich ein unbezahlbarer Schatz. Möge Er das für uns alle sein!
2.
AHIMSA ODER LIEBE
In
der letzten Woche haben wir gesehen, dass der Pfad der Wahrheit ebenso schmal
wie gerade ist. Genauso ist es mit dem Pfad von Ahimsa. Es ist, als balanciere man auf Messers Schneide. Wenn ein
Akrobat sich konzentriert, kann er auf einem Seil tanzen. Aber noch viel mehr
Konzentration brauchen wir, um den Pfad von Wahrheit und Ahimsa zu beschreiten. Die kleinste Unaufmerksamkeit macht, dass
wir zu Boden stürzen. Nur durch unaufhörliches Streben können wir Wahrheit und Ahimsa verwirklichen.
Solange wir im Rahmen der Sterblichkeit
gefangen sind, ist es uns unmöglich, die vollkommene Wahrheit zu verwirklichen.
Wir können sie uns nur in unserer Fantasie vorstellen. Solange wir in diesem
vergänglichen Körper sind, können wir die ewige Wahrheit nicht von Angesicht zu
Angesicht sehen. Aus diesem Grund müssen wir zum Glauben Zuflucht nehmen.
Die
Unmöglichkeit, die Wahrheit vollkommen wahrzunehmen, solange wir in unserem
sterblichen Körper sind, führte wohl einen Wahrheitssuchenden der Vergangenheit
dazu, Ahimsa wertzuschätzen. Er
stellte sich die Frage: „Soll ich Nachsicht mit denen haben, der mir
Schwierigkeiten bereiten, oder soll ich sie vernichten?“ Dem Suchenden wurde
klar, dass einer, der andere vernichtet, keine Fortschritte macht, sondern genau
dort stehen bleibt, wo er ist, während einer, der diejenigen, die ihm Schwierigkeiten
bereiten, erträgt, vorwärts schreitet und manchmal sogar die anderen mitnimmt.
Als er das erste Mal einen vernichtete, erlebte er, dass die Wahrheit, die der
Gegenstand seiner Suche war, nicht außerhalb von ihm, sondern in seinem Innern
war. Deshalb entfernte er sich, je mehr er zur Gewalt griff, um so mehr von der
Wahrheit. Denn beim Kampf mit dem vorgestellten Feind außerhalb von ihm,
vernachlässigte er den Feind im Innern.
Wir
bestrafen Diebe, weil sie uns lästig sind. Sie sollen uns gefälligst in Ruhe
lassen! Aber wenn sie uns in Ruhe lassen, richten sie ihre Aufmerksamkeit nur
auf ein anderes Opfer. Auch dieses Opfer ist ein Mensch, wir selbst in einer
anderen Form. Also sind wir in einem Teufelskreis gefangen. Der Ärger mit den
Dieben wird immer größer, denn sie denken, Stehlen sei ihr Geschäft. Am Ende
sehen wir: Es ist besser, Diebe zu ertragen, als sie zu bestrafen. Die
Nachsicht bringt sie vielleicht zur Besinnung. Wenn wir Diebe ertragen, machen
wir uns klar, dass sie gar nicht anders als wir sind, sie sind unsere Brüder,
unsere Freunde und dürfen nicht bestraft werden. Aber wenn wir auch die Diebe
ertragen, so ertragen wir doch nicht das, was sie uns antun. Das wäre Feigheit.
Uns wird also eine weitere Pflicht klar. Da wir die Diebe als Verwandte
ansehen, müssen wir sie dazu bringen, die Verwandtschaft zu erkennen. Und
deshalb müssen wir uns Mühe geben, Mittel und Wege zu ersinnen, sie für uns zu
gewinnen. Das ist der Pfad von Ahimsa.
Dazu mag gehören, dass wir fortwährend leiden und maßlose Geduld kultivieren.
Unter diesen beiden Bedingungen – unserem Leiden und unserer Geduld – muss der
Dieb sich am Ende von seinem üblen Handeln abkehren. So lernen wir Schritt für
Schritt, wie wir uns mit aller Welt Freund werden können. Wir erkennen die
Größe Gottes – der Wahrheit. Unser Seelenfrieden nimmt trotz unserem Leiden zu,
wir werden tapferer und unternehmungslustiger, wir verstehen deutlicher den
Unterschied zwischen dem, was ewig ist, und dem, was nicht ewig ist, wir
lernen, zwischen dem, was unsere Pflicht ist, und dem, was nicht unsere Pflicht
ist, zu unterscheiden. Unser Stolz schmilzt dahin und wir werden demütig.
Unsere weltlichen Bindungen werden schwächer und das Böse in uns nimmt von Tag
zu Tag ab.
Ahimsa
ist nicht so wenig ausgereift, wie sie oft dargestellt wird. Kein Lebewesen zu
verletzen gehört zweifellos zu Ahimsa.
Aber das ist nur ihre engste Bedeutung. Das
Prinzip Ahimsawird schon durch einen jeden bösen Gedanken, jede unangemessene
Eile, durch Lügen, durch Hass und dadurch verletzt, dass wir irgendjemandem
Böses wünschen. Es wird auch dadurch verletzt, dass wir etwas für uns behalten,
was die Welt braucht. Aber die Welt braucht sogar das, was wir Tag für Tag
essen. Auf der Stelle, auf der wir stehen, sind Millionen von Mikroorganismen,
denen die Stelle eigentlich gehört und die wir durch unsere Anwesenheit dort
verletzen.
Was
sollten wir also tun? Sollten wir uns umbringen? Nicht einmal das wäre eine
Lösung, wenn wir das glauben, was wir tatsächlich glauben, nämlich dass sich
der Geist, solange er an das Fleisch gebunden ist, bei jeder Vernichtung des
Körpers einen neuen wirkt. Der Körper hört nur auf zu existieren, wenn wir alle
Bindungen an ihn aufgeben. Diese Freiheit von allen Bindungen ist die
Verwirklichung von Gott als Wahrheit. Eine solche Verwirklichung kann nicht im
Nu erreicht werden. Der Körper gehört nicht uns. Solange er dauert, müssen wir
ihn als etwas betrachten, das unserer Fürsorge anvertraut ist. Wenn wir die
fleischlichen Angelegenheiten so behandeln, dann können wir erwarten, dass wir
eines Tages von der Last des Körpers befreit werden. Wenn wir uns die
Begrenzungen des Fleisches vergegenwärtigen, müssen wir Tag für Tag mit aller
Kraft, die wir in uns haben, auf dieses Ideal zustreben.
Aus
dem bisher Gesagten ist vielleicht deutlich geworden, dass es ohne Ahimsa unmöglich ist, die Wahrheit zu
suchen und zu finden. Ahimsa und
Wahrheit sind so ineinander verschlungen, dass es so gut wie unmöglich ist, sie
zu entflechten und zu trennen. Sie sind wie zwei Seiten einer Medaille oder
eher einer weichen, nicht geprägten Metallscheibe. Wer kann sagen, welches die
Vorder- und welches die Rückseite ist? Und doch ist Ahimsa das Mittel und die Wahrheit der Zweck. Wenn ein Mittel als Mittel
dienen soll, muss es für uns erreichbar sein, und so ist Ahimsa unsere höchste Pflicht. Wenn wir für das Mittel sorgen,
müssen wir den Zweck früher oder später erreichen. Wenn wir diesen Punkt erst
einmal erreicht haben, ist der Sieg fraglos unser. Welche Schwierigkeiten uns
auch begegnen, welche scheinbaren Rückschläge wir auch erleben: Eines dürfen
wir nicht aufgeben: die Suche nach der Wahrheit; sie allein ist existent, da
sie Gott Selbst ist.
3. BRAHMACHARYA ODER KEUSCHHEIT
Der
dritte unserer Grundsätze ist Brahmacharya.
Eigentlich sind alle Grundsätze von der Wahrheit abzuleiten und sollen ihr förderlich
sein. Der Mensch, der mit der Wahrheit verheiratet ist, und allein die Wahrheit
verehrt, ist ihr untreu, wenn er seine Fähigkeiten auf etwas anderes verwendet.
Wie könnte er seinen Sinnen dienstbar sein? Der Mensch, der alle seine
Handlungen vollständig der Verwirklichung der Wahrheit, die für sich
Ausschließlichkeit verlangt, weiht, kann keine Zeit für den selbstsüchtigen
Zweck aufbringen, Kinder zu bekommen und einen Haushalt zu führen. Nach dem,
was bisher gesagt wurde, ist klar: Verwirklichung der Wahrheit und Selbstsucht schließen
sich gegenseitig aus.
Wenn
wir vom Standpunkt von Ahimsa (Gewaltfreiheit)
ausgehen, erkennen wir, dass die Erfüllung von Ahimsa ohne äußerste Selbstlosigkeit unmöglich ist. Ahimsa bedeutet universelle Liebe. Wenn
ein Mann seine Liebe einer einzigen Frau oder eine Frau einem einzigen Mann
schenkt – was bleibt dann für die ganze Welt noch übrig? Es bedeutet einfach:
„Wir beide zuerst und der Teufel hole alle übrigen!“ Da eine treue Frau bereit
sein muss, sich ganz und gar für ihren Mann zu opfern, und ein treuer Mann für
seine Frau, ist klar, dass diese Menschen sich nicht zur Höhe der universellen
Liebe erheben und die ganze Menschheit als ihre Familie ansehen können, denn
sie haben einen Grenzwall um ihre Liebe gezogen. Je größer ihre Familie ist,
umso weiter sind sie von der universellen Liebe entfernt. Deshalb kann einer,
der dem Gesetz von Ahimsa gehorcht,
nicht heiraten, ganz zu schweigen von einer Erfüllung außerhalb des
Ehebundes.
Was
ist dann aber mit den Menschen, die schon verheiratet sind? Werden sie niemals
die Wahrheit erreichen können? Können sie sich niemals ganz und gar auf dem
Altar der Menschheit opfern? Es gibt eine Möglichkeit für sie. Sie können sich
verhalten, als wären sie nicht verheiratet. Wer in dieser glücklichen Lage ist,
wird mir recht geben. Soweit ich weiß, haben viele das Experiment erfolgreich
erprobt. Wenn das verheiratete Paar einander wie Bruder und Schwester
betrachtet, sind sie für den universellen Dienst befreit. Der bloße Gedanke,
dass alle Frauen in der Welt seine Schwestern, Mütter oder Töchter sind, wird
den Mann sofort adeln und seine Ketten zerbrechen. Damit verlieren Frau und
Mann gar nichts, sondern sie stärken ihre Ressourcen und sogar ihre Familie.
Ihre Liebe wird frei von der Unreinheit der Lust und dadurch stärker. Wenn
diese Unreinheit verschwindet, können sie einander besser dienen und es gibt
weniger Anlässe zum Streiten. Wo die Liebe selbstsüchtig und gebunden ist, gibt
es mehr Anlässen zum Streiten.
Wenn
die vorgebrachten Argumente anerkannt werden, betrachten wir die körperlichen
Vorteile der Keuschheit als zweitwichtigstes Argument. Wie töricht ist es doch,
Lebensenergie absichtlich in Sinnesfreuden zu verschwenden! Es ist ein schwerer
Fehler, für körperliche Befriedigung das zu vergeuden, was Mann und Frau zur
vollkommenen Entwicklung ihrer körperlichen und geistigen Kräfte geschenkt
wurde. Ein derartiger Fehler ist die Ursache manch einer Krankheit.
Brahmacharya
muss, wie alle anderen Grundsätze, in Gedanke, Wort und Tat befolgt werden. Die
Gita erzählt uns, und Erfahrung
bestätigt es, dass sich der Narr, der seinen Körper zu beherrschen scheint,
aber böse Gedanken in seinem Geist nährt, umsonst bemüht. Es kann schädlich
sein, den Körper zu unterdrücken, wenn gleichzeitig dem Geist gestattet wird,
vom rechten Weg abzukommen. Wenn der Geist umherirrt, muss ihm der Körper
früher oder später folgen.
Es
ist notwendig, dass wir hier einen Unterschied anerkennen. Eines ist es, dem
Geist zu gestatten, unreine Gedanken zu hegen, etwas ganz anderes ist es, wenn
er gegen unseren Willen zu ihnen abirrt. Am Ende wird der Sieg unsere sein,
wenn wir nicht mit dem Geist auf seiner üblen Wanderung gemeinsame Sache
machen.
Wie
erleben jeden Augenblick in unserem Leben, dass wir zwar unseren Körper, nicht
aber unseren Geist beherrschen können. Die körperliche Herrschaft darf niemals
gelockert werden und außerdem müssen wir uns ständig bemühen, auch den Geist
unter unsere Herrschaft zu bringen. Wir können nicht mehr und nicht weniger
tun. Wenn wir dem Geist nachgeben, gehen Körper und Geist verschiedene Wege und
wir betrügen uns selbst. Wir können sagen, dass Körper und Geist zusammengehen,
solange wir weiterhin gegen die Annäherung eines jeden bösen Gedankens
Widerstand leisten.
Brahmacharya ausüben
wird für sehr schwierig, ja fast unmöglich gehalten. Wenn wir den Grund für
diese Annahme zu finden versuchen, erkennen wir, dass der Ausdruck Brahmacharya in einem sehr engen Sinn
verstanden wurde. Bloße Herrschaft über die tierische Leidenschaft wurde für gleichbedeutend
mit dem Ausüben von Brahmacharya
gehalten. Ich denke, diese Vorstellung ist unvollständig und falsch. Brahmacharya bedeutet die Herrschaft
über alle Sinnesorgane. Einer, der versucht, nur ein einziges Organ zu
beherrschen, und allen anderen freies Spiel lässt, muss erfahren, dass seine
Bemühung vergeblich ist. Mit den Ohren anzügliche Geschichten hören, mit den
Augen anzügliche Bilder sehen, mit der Zunge geschmackstimulierende Nahrung zu
sich nehmen, mit den Händen Aufregendes berühren und gleichzeitig erwarten, man
könnte das einzig übrig gebliebene Organ beherrschen, ist, als ob man seine Hände
ins Feuer legte und erwartete, dass sie nicht verbrennen. Einer, der
entschlossen ist, das eine [Organ] zu beherrschen muss ebenso entschlossen
sein, alle übrigen zu beherrschen. Ich denke oft, dass durch die zu enge
Definition von Brahmacharya großer
Schaden entsteht. Wenn wir gleichzeitig in jeder Hinsicht Selbstbeherrschung
üben, wird der Versuch systematisch und vielleicht erfolgreich sein. Vielleicht
ist der Gaumen ja der größte Sünder. Darum haben wir im Aschram der
Beherrschung des Gaumens einen besonderen Platz in unseren Grundsätzen
angewiesen.
Wir
wollen an die ursprüngliche Bedeutung von brahma-charya
denken. Charya bedeutet
Verhaltensweise, Brahmacharya-Verhalten
passt sich der Suche nach Brahma, das
ist Wahrheit, an. Aus dieser etymologischen Bedeutung ergibt sich die besondere
Bedeutung, nämlich Herrschaft über alle Sinne. Wir müssen die unvollständige
Definition, die sich einzig und allein auf den sexuellen Aspekt beschränkt,
vollständig vergessen.
4.
BEHERRSCHUNG DES GAUMENS
Beherrschung
des Gaumens ist sehr eng mit dem Ausüben von Brahmacharya verbunden. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass das
Einhalten des Zölibats vergleichsweise leicht wird, wenn man seinen Gaumen
beherrschen kann. Die Beherrschung des Gaumens gehört nicht zu den Grundsätzen,
die von alters her anerkannt wurden. Kann es sein, dass selbst große Weise die
Befolgung schwierig fanden? Im Satyagraha-Aschram
haben wir sie in den Rang eines von anderen Grundsätzen unabhängigen Grundsatzes
erhoben und deshalb muss sie an sich betrachtet werden.
Nahrung
müssen wir wie Medizin zu uns nehmen, d. h. ohne dass wir darüber nachdenken,
ob sie gut schmeckt oder nicht, und nur in Mengen, die den Bedürfnissen des
Körpers entsprechen. Wie Medizin, die man in einer zu kleinen Dosis einnimmt,
wenig oder gar nicht wirkt, und wie eine zu große Dosis das System schädigt,
ebenso ist es mit Nahrung. Darum ist es ein Bruch dieses Grundsatzes, wenn man
irgendetwas nur des angenehmen Geschmacks wegen zu sich nimmt. Ebenso ist es
ein Bruch des Grundsatzes, wenn man zu viel von dem isst, was einem schmeckt.
Daraus folgt, dass es ein Bruch des Grundsatzes ist, wenn man Salz in sein
Essen tut, um den Geschmack zu verstärken oder zu verändern oder um den
Geschmack des Essens zu verbessern. Wenn das Hinzufügen von Salz jedoch als für
die Gesundheit notwendig erscheint, weil wir eine gewissen Menge davon
brauchen, ist das kein Bruch des Grundsatzes. Natürlich wäre es reine
Heuchelei, wenn wir Salz oder etwas anderes an unsere Speisen tun würden, indem
wir uns selbst betrügen und es für unser System für notwendig erklären, obwohl
es das gar nicht ist.
Wenn
wir dieser Leitlinie folgen, erkennen wir, dass wir vieles aufgeben müssen, was
uns ein Genuss war, da wir es nicht für unsere Ernährung brauchen. Einer, der
auf diese Weise vieles Essbare aufgibt, erwirbt auf ganz natürliche Weise
Selbstbeherrschung. Dieses Thema genießt so wenig Aufmerksamkeit, dass die
Auswahl der Speisen diesem Grundsatz gemäß sehr schwierig ist.
Eltern
geben ihren Kindern aus falsch verstandener Zuneigung viele verschiedene
Nahrungsmittel, richten ihre Gesundheit zugrunde und verhelfen ihnen damit zu
einem künstlichen Geschmack. Wenn sie erwachsen werden, haben sie kranke Körper
und einen irregeführten Geschmack. Die üblen Folgen dieser frühen Nachsicht
verfolgen uns bei jedem Schritt. Um sie zu mildern, verschwenden wir viel Geld
und fallen leicht Medizinmännern zum Opfer.
Die
meisten von uns werden zum Sklaven ihrer Sinnesorgane, anstatt dass sie sie
beherrschen. Ein erfahrener Arzt bemerkte, dass er – auch außerhalb seiner
Praxis – niemals einen Gesunden gesehen habe. Jedes Mal, wenn wir zu viel
essen, wird unser Körper verletzt und die Verletzung kann dann nur noch teilweise
durch Fasten geheilt werden.
Niemand
braucht wegen meiner Beobachtungen Angst zu bekommen oder muss verzweifelt
seine Bemühung aufgeben. Wenn wir ein Gelübde ablegen, heißt das nicht, dass
wir es von Anfang an vollkommen halten können. Es bedeutet ständige und
ehrliche Bemühung in Gedanken, Wort und Tat in der Absicht, das Gelübde zu
halten. Wir dürfen uns nicht selbst hintergehen, indem wir so tun als ob. Wenn
wir den Maßstab für ein Ideal herabsetzen und es damit leichter erreichbar
machen, begehen wir eine Unwahrheit und erniedrigen uns. Ein Ideal verstehen
und dann eine herkuleische Anstrengung machen, es zu erreichen, ganz gleich,
wie schwer das ist, das ist Purushartha,
männliche Anstrengung. Wer immer nur auf perfekte Weise Schlüssel-Grundsätze
befolgt, dem bleibt in dieser Welt ja nichts mehr zu tun übrig; er ist ein Bbhagavan, ein vollkommener Mensch, er ist
ein Yogi. Wir bescheidenen Sucher
können uns nur langsam, aber stetig bemühen und das wird uns gewiss die
göttliche Gnade in Gottes guter Zeit gewinnen und aller künstlicher Geschmack
wird verschwinden, wenn wir den Höchsten
erkennen.
Wir
müssen nicht vierundzwanzig Stunden am Tag über unsere Nahrung nachdenken.
Notwendig ist nur ständige Wachsamkeit, denn die wird uns dazu verhelfen, dass
wir sehr bald herausfinden, wann wir zu unserem Genuss essen und wann nur, um
unseren Körper zu erhalten. Wenn wir das entdeckt haben, müssen wir uns
entschlossen gegen bloßen Genuss wenden. Eine Gemeinschaftsküche, in der dieses
Prinzip herrscht, erweist sich als hilfreich, denn die befreit uns von der
Notwendigkeit, uns jeden Tag die Speisen ausdenken zu müssen, und versieht uns
mit akzeptabler Nahrung. Davon nehmen wir uns dann mit zufriedenem und dankbarem
Geist nur eine begrenzte Menge. Die die Gemeinschaftsküche leiten, erleichtern
uns die Last und dienen als Wachhunde für unsere Grundsätze. Sie verwöhnen uns
nicht, sie kochen nur solches Essen, das dazu beiträgt, unseren Körper als
Werkzeug zum Dienen zu erhalten. Der Idealzustand wäre, wenn die Sonne unser
einziger Koch wäre. Aber ich weiß, dass wir weit weit weg von diesem
glückseligen Zustand sind.
5.
NICHT STEHLEN
Wir
kommen jetzt zum Grundsatz von Nichtstehlen. Wie die letzten beiden ist auch
dieser in der Wahrheit enthalten. Liebe kann von Wahrheit abgeleitet werden
oder sie kann mit Wahrheit gleichgesetzt werden. Wahrheit und Liebe sind ein
und dasselbe. Ich bin für Wahrheit eingenommen. Bei der endgültigen Auslegung
kann es nur eine einzige Wirklichkeit geben. Die höchste Wahrheit steht für
sich selbst. Wahrheit ist der Zweck, Liebe ist das Mittel dazu. Zwar wissen
wir, was Liebe, Gewaltfreiheit, ist, allerdings finden wir es schwer, dem
Gesetz der Liebe Folge zu leisten. Aber von der Wahrheit kennen wir nur einen
Teil. Vollkommenes Wissen der Wahrheit ist für den Menschen schwer zu
erreichen, ebenso wie die vollkommene Ausführung von Gewaltfreiheit.
Es
ist unmöglich, dass jemand stiehlt und gleichzeitig den Anspruch erhebt, er
kenne die Wahrheit oder halte die Liebe in Ehren. Und doch sind wir alle
bewusst oder unbewusst mehr oder weniger des Diebstahls schuldig. Wir können
nicht nur das stehlen, was anderen gehört, sondern auch das, was uns selbst
gehört. Das tut zum Beispiel ein Vater, der heimlich etwas isst und seinen
Kindern nichts abgibt. Die Aschramvorratsräume sind gemeinsames Eigentum, aber
einer, der heimlich auch nur ein Körnchen Zucker draus wegnimmt, wird zum Dieb.
Diebstahl ist, wenn man etwas, das einem anderen gehört, ohne dessen Erlaubnis
an sich nimmt, auch wenn es mit dessen Wissen geschieht. Es ist ebenfalls
Diebstahl, wenn man etwas im Glauben, es gehöre keinem, nimmt. Etwas, das man
auf der Straße findet, gehört der Regierung oder der lokalen Behörde. Alles,
was in der Nähe des Aschrams gefunden wird, muss dem Sekretär übergeben werden,
der es seinerseits der Polizei übergibt, wenn es nicht Eigentum des Aschrams
ist.
Bis
hierher ist noch alles einfach. Aber das Prinzip Nichtstehlen geht noch sehr
viel weiter. Es ist Diebstahl, wenn wir etwas von einem anderen – selbst mit
seiner Erlaubnis – nehmen, das wir nicht wirklich brauchen. Wir sollten nichts
annehmen, was wir nicht brauchen. Bei dieser Art Diebstahl geht es im
Allgemeinen um Nahrungsmittel. Es ist Diebstahl, wenn ich eine Frucht nehme,
die ich nicht brauche, oder mehr davon nehme als notwendig. Unsere wahren
Bedürfnisse sind uns nicht immer bewusst, und die meisten von uns
vervielfältigen ihre Wünsche auf unangemessene Weise. Damit machen wir uns
unbewusst zu Dieben. Wenn wir etwas über die Sache nachdenken, werden wir
herausfinden, dass wir ziemlich viele unserer Wünsche aufgeben können. Einer,
der dem Prinzip Nichtstehlen folgt, wird auf die Erfüllung immer mehr seiner
Wünsche verzichten können. Ein großer Teil der quälenden Armut in dieser Welt
ergibt sich aus dem Bruch des Prinzips Nichtstehlen.
Bisher
haben wir nur einen Diebstahl betrachtet, bei dem es sich um äußeren,
physischen, Diebstahl handelt. Daneben gibt es einen Diebstahl subtilerer Art
und dieser setzt den menschlichen Geist weit mehr herab. Es ist der Diebstahl,
im Geiste etwas haben wollen, das anderen gehört, oder es mit gierigen Blicken zu
verschlingen. Von einem, der keine Nahrung zu sich nimmt, wird im Allgemeinen
gesagt, er faste, aber er ist des Diebstahls schuldig, als würde er das Fasten
brechen, wenn er sich der geistigen Betrachtung des Genusses hingibt, wenn er
zusieht, wie andere ihre Mahlzeit einnehmen. Ebenso schuldig macht er sich,
wenn er sich während des Fastens ständig die Vielfalt von Speisen ausmalt, die
er nach dem Fastenbrechen zu sich nehmen wird.
Einer,
der das Prinzip Nichtstehlen befolgt, lehnt es ab, sich mit etwas, das er in
Zukunft erwerben will, zu beschäftigen. Diese üble Sorge um die Zukunft ist die
Ursache vieler Diebstähle. Heute begehren wir nur den Besitz einer Sache,
morgen beginnen wir, Maßnahmen zu ergreifen – wenn möglich anständige, aber
durchaus auch unanständige, wenn wir sie für notwendig halten -, um in ihren
Besitz zu gelangen.
Ebenso
wie materielle Dinge können Ideen gestohlen werden. Einer, der egoistisch den
Anspruch erhebt, er sei der Urheber einer guten Idee, die in Wirklichkeit gar
nicht von ihm stammt, macht sich des Ideen-Diebstahls schuldig. Viele Gelehrt
haben im Laufe der Geschichte derartige Ideen-Diebstähle begangen und auch
heutzutage sind Plagiate durchaus nicht ungewöhnlich. Wenn ich zum Beispiel
eine neue Art Spinnrad in Andhra gesehen habe, ein ähnliches Rad im Schram baue
und es als meine eigene Erfindung ausgebe, begehe ich nicht nur eine Unwahrheit,
sondern ich bin eindeutig auch schuldig, die Erfindung eines anderen gestohlen
zu haben.
Also
muss einer, der das Prinzip Nichtstehlen übernimmt, demütig, umsichtig und
wachsam und einfach in seinen Gewohnheiten sein.
6.
NICHT BESITZEN ODER ARMUT
Nichtbesitzen
ist mit Nichtstehlen verbunden. Etwas, das ursprünglich nicht gestohlen wurde,
muss doch als gestohlenes Eigentum beurteilt werden, wenn wir es besitzen, ohne
dass wir es brauchen. Besitz bedeutet Vorsorge für die Zukunft. Einer, der nach
Wahrheit strebt, der dem Gesetz der Liebe folgt, kann nichts für morgen
bereithalten. Gott speichert nie für morgen, Er schafft niemals mehr, als für
den Augenblick unbedingt gebraucht wird. Wenn wir also Glauben in Seine
Vorsehung haben, sollten wir in aller Ruhe erwarten, dass Er uns jeden Tag
unser tägliches Brot geben wird, das bedeutet: alles, was wir benötigen.
Heiligen und Anhängern, die in diesem Glauben gelebt haben, hat ihre Erfahrung
das bestätigt. Unsere Unkenntnis des Göttlichen Gesetzes oder seine
Vernachlässigung – des Gesetzes, dass dem Menschen von Tag zu Tag sein
tägliches Brot und nicht mehr gegeben wird – hat Anlass zu Ungleichheiten mit
all dem Elend gegeben, das dazu gehört.
Die
Reichen haben überflüssige Vorräte an Dingen, die sie nicht brauchen und die
sie deshalb vernachlässigen und verschwenden, während Millionen aus Mangel an
Lebensunterhalt verhungern. Wenn jeder nur so viel Besitz behielte, wie er
braucht, würde keinem etwas fehlen und alle würden zufrieden leben. Bei dem
herrschenden Zustand sind die Reichen nicht weniger unzufrieden als die Armen:
Der Arme würde gerne zum Millionär und der Millionär zum Multimillionär. Der
Reiche sollte die Initiative ergreifen, sich zu enteignen, und an die
Verteilung des Geistes der Zufriedenheit in der ganzen Welt denken. Wenn die Reichen
ihren Besitz nur in gemäßigten Grenzen halten würden, könnten die Hungernden
leicht ernährt werden und sie würden gemeinsam mit den Reichen eine Lektion in
Zufriedenheit erteilt bekommen. Vollkommene Erfüllung des Ideals Nichtbesitzen
erfordert, dass der Mensch wie die Vögel kein Dach über dem Kopf hat, keine
Kleidung und keinen Nahrungsvorrat für morgen. Tatsächlich wird er sein
tägliches Brot brauchen, aber es ist Gottes Sache und nicht die seine, es zu
beschaffen. Nur die Wenigsten, wenn überhaupt jemand, kann dieses Ideal
erreichen. Wir gewöhnlichen Suchenden sollten uns nicht von der scheinbaren
Unmöglichkeit abschrecken lassen. Aber wir müssen uns das Ideal ständig vor
Augen halten und in seinem Licht unsere Besitztümer kritisch prüfen und sie
reduzieren. Zivilisation im wahren Sinne des Wortes besteht nicht in der
Vervielfältigung, sondern in der bewussten und freiwilligen Verminderung
unserer Wünsche. Das allein fördert wahres Glück und wahre Zufriedenheit und
vergrößert unsere Fähigkeit zum Dienst. Nach diesem Maßstab erkennen wir, dass
wir im Aschram vieles besitzen, dessen Notwendigkeit nicht zu erweisen ist und
mit dem wir unsere Nächsten in Versuchung bringen, uns zu bestehlen.
Vom
Standpunkt der reinen Wahrheit aus ist auch der Körper ein Besitztum. Es
stimmt, dass der Wunsch nach Genuss Körper für die Seele schafft. Wenn dieser
Wunsch schwindet, bleibt weiter kein Bedarf für den Körper und der Mensch ist
frei vom Teufelskreis der Geburten und Tode. Die Seele ist allgegenwärtig,
warum sollte es ihr gefallen, in den einem Käfig gleichen Körper eingesperrt zu
sein oder für diesen Käfig etwas Böses zu tun oder sogar zu töten? Wir
erreichen also das Ideal der vollkommenen Entsagung und lernen, unseren Körper,
solange er existiert, so sehr für den Zweck des Dienens zu gebrauchen, dass der
Dienst und nicht das Brot für uns zur Würze des Lebens wird. Wir essen und
trinken, schlafen und wachen, allein für den Dienst. Eine derartige Geisteshaltung
bringt uns wahres Glück und die glückselige Vision der Fülle der Zeit. Von
diesem Standpunkt aus wollen wir alle uns prüfen.
Wir
sollten daran denken, dass Nichtbesitzen ein Prinzip ist, das wir auf Gedanken
ebenso wie auf Dinge anwenden können. Ein Mensch, der eine Gehirn mit nutzlosem
Wissen vollstopft, tut diesem unschätzbaren Prinzip Gewalt an. Gedanken, die
uns von Gott ablenken oder die uns ihm nicht zuwenden, sind Hindernisse auf
unserem Weg. In diesem Zusammenhang mögen wir über die Definition von Wissen
nachdenken, die im 13. Kapitel der Gita enthalten
ist. Dort sagt man uns, dass Demut (Amanitvam)
usw. das Wissen begründeten und alles Übrige Unwissen sei.[2]
Wenn das stimmt – und daran gibt es keinen Zweifel -, ist vieles von dem, was uns
heute als Wissen lieb ist, reines und einfaches Nichtwissen und deshalb tut es
uns nur Schaden, anstatt dass es uns irgendeinen Vorteil bringt. Es bringt den
Geist zum Wandern, vermindert ihn sogar zu einer Leere und Unzufriedenheit und blüht
in endlosen Verzweigungen des Bösen. Überflüssig zu sagen, dies ist kein Appell
zur Trägheit. Jeder Augenblick unseres Lebens sollte von geistiger oder
körperlicher Aktivität erfüllt sein, aber diese Aktivität sollte sattvika sein, zur Wahrheit neigen.
Einer, der sein Leben dem Dienst geweiht hat, kann keinen Augenblick untätig
sein. Aber wir müssen lernen, zwischen guter und schlechter Aktivität zu
unterscheiden. Diese Unterscheidung geht auf natürliche Weise Hand in Hand mit
aufrichtiger Hingabe an den Dienst.
7.
FURCHTLOSIGKEIT
Jeder
Leser der Gita weiß, dass
Furchtlosigkeit die Liste der göttlichen Eigenschaften, die im 16. Kapitel
aufgelistet werden, anführt.[3]
Ob sich das nur dem Metrum verdankt oder ob der Stolz des ersten Platzes
absichtlich der Furchtlosigkeit angewiesen wurde, ist mehr als ich sagen kann.
Meiner Ansicht nach verdient Furchtlosigkeit jedoch vollkommen den ersten Rang,
der ihr zugesprochen wird. Denn sie ist unverzichtbar für die Zunahme anderer
edler Eigenschaften. Wie kann jemand ohne Furchtlosigkeit nach Wahrheit streben
oder an der Liebe festhalten? Wie Pritam schreibt: „Der Weg von Hari (des Herrn) ist der Weg des
Tapferen, nicht der Feiglinge.“ Hari bedeutet
hier Wahrheit und die Tapferen sind die, die mit Furchtlosigkeit ausgestattet
sind, nicht mit dem Schwert, dem Gewehr und dergleichen. Diese Waffen werden
nur von denen aufgenommen, die von Furcht besessen sind.
Furchtlosigkeit
bedeutet Freiheit von aller äußeren Furcht – Furcht vor Krankheit, Verletzung
des Körpers und Tod, vor Eigentumsverlust, Verlust der Nächsten und Liebsten,
Verlust des guten Rufes oder Beleidigungen usw. Wer die Todesfurcht überwindet,
überwindet damit noch nicht alle anderen Ängste, wie allgemein, aber irrtümlich
angenommen wird. Manche von uns fürchten den Tod nicht, aber sie laufen vor den
kleineren Üblen des Lebens davon.
Einige
sind bereit, selbst zu sterben, aber sie können es nicht ertragen, wenn ihnen
ihre Lieben genommen werden. Einige Geizhälse würden alles das ertragen, sie
würden selbst ihr Leben aufgeben, aber nicht ihr Eigentum, andere würden alles
mögliche Schlimme tun, nur um ihr Prestige aufrechtzuerhalten. Einige würden
vom geraden und schmalen Pfad, der deutlich vor ihnen liegt, abweichen, einfach
nur, weil sie sich fürchten, den Hass der Welt auf sich zu ziehen. Der Wahrheitssucher muss alle diese Ängste
besiegen.
Er muss bereit
sein, alles dem Streben nach Wahrheit zu opfern, so wie Harishchandra
es tat. Die Geschichte von Harishchandra[4]
ist vielleicht nur ein Gleichnis, aber jeder Sucher wird aus eigener Erfahrung
Zeugnis für ihre Wahrheit ablegen und deshalb ist die Geschichte ebenso kostbar
wie eine jede historische Tatsache.
Vollkommene Furchtlosigkeit kann nur einer
erreichen, der das Höchste erkannt hat, denn sie bedeutet Freiheit von
Täuschungen. Durch entschlossenes und beständiges Bemühen und dadurch, dass man
Selbstvertrauen entwickelt, kann man immer in Richtung dieses Zieles
voranschreiten.
Wie
ich schon anfangs sagte, müssen wir alle äußeren Ängste aufgeben. Aber die
inneren Feinde müssen wir immer fürchten. Zu Recht fürchten wir uns vor
tierischer Leidenschaft, Zorn und dergleichen. Äußere Ängste hören von selbst
auf, wenn wir erst einmal diese Verräter im eigenen Lager besiegt haben. Alle
diese Ängste drehen sich um den Körper als Zentrum und sie verschwinden, sobald
wir das Anhaften an den Körper loswerden. Auf diese Weise finden wir, dass alle
äußere Furcht das grundlose Gebilde unserer eigenen Einbildungskraft ist.
Furcht hat keinen Platz in unserem Herzen, wenn wir das Anhaften an Wohlstand,
Familie und Körper abschütteln. „Genieße die Dinge der Erde, indem du auf sie
verzichtest“, ist die erhabene Vorschrift. Wohlstand, Familie und Körper werden
genau dieselben sein, wir müssen nur unsere Haltung ihnen gegenüber ändern:
Alles das gehört nicht uns, sondern Gott. Nichts in der Welt ist unser. Sogar
wir selbst gehören Ihm. Warum sollten wir dann irgendwelche Ängste hegen? Darum
weisen uns die Upanischaden an: „das Anhaften an die Dinge aufgeben, während
wir sie genießen“. Das heißt, wir müssen Interesse an ihnen haben, aber nicht
als Eigentümer, sondern als Verwalter. Der, für den wir sie verwalten, wird uns
die Kraft und die Waffen geben, die dafür notwendig sind, sie gegen alle
Eindringlinge zu verteidigen. Wenn wir dann nicht mehr die Herren sind und uns
auf den Rang von Dienern herab begeben, demütiger als der Staub unter unseren
Füßen, werden sich alle Ängste heben wie Nebel. Wir werden unsäglichen Frieden
erlangen und Satyanarayan (den Gott
der Wahrheit) von Angesicht zu Angesicht sehen.
8.
AUFHEBUNG DER UNBERÜHRBARKEIT
Auch
dies ist ebenso wie die Herrschaft über den Gaumen ein neuer Grundsatz und mag
etwas seltsam erscheinen. Aber es ist von äußerster Wichtigkeit.
Unberührbarkeit bedeutet, dass man durch die Berührung von bestimmen Menschen
wegen ihrer Geburt in einem besonderen Stand oder einer besonderen Familie
unrein wird. In den Worten Akhas ist es ein Auswuchs in der Verkleidung von
Religion, ist immer im Weg und verdirbt die Religion.
Niemand
kann als unberührbar geboren werden, denn alle sind Funken ein und desselben
Feuers. Es ist falsch, bestimmte Menschen als unberührbar von Geburt an zu
behandeln. Es ist auch unrecht, falsche Bedenken zu haben, einen Leichnam zu
berühren, denn der sollte ein Objekt von Mitgefühl und Respekt sein. Nur aus
Gesundheitsgründen baden wir nach der Berührung eines Leichnams oder nachdem
wir ihn eingeölt oder rasiert haben. Einer, der in einem solchen Fall nicht
badet, mag als schmutzig, aber bestimmt nicht als Sünder gelten. Eine Mutter
mag „unberührbar“ sein, solange sie nicht gebadet oder Hände und Füße gewaschen
hat, nachdem sie ihr Kind von seinem Schmutz befreit hat, aber wenn ein Kind
sie berührt, wird es durch die Berührung nicht verunreinigt.
Aber
auf Bhangis, Dhedhs, Chamars und ihresgleichen wird herabgesehen als
Unberührbare von Geburt. Sie mögen jahrelang mit jeder Menge Seife baden, sich
gut anziehen und die Zeichen von Vaishnavas, von Vishnu, tragen, jeden Tag in
der Gita lesen und einen Beruf
erlernt haben und doch bleiben sie Unberührbare. Dies ist eine widerliche
Irreligiosität und muss unbedingt beseitigt werden. Indem wir das Aufheben der
Unberührbarkeit als Aschram-Grundsatz behandeln, versichern wir, dass wir
glauben, dass Unberührbarkeit nicht zum Hinduismus gehört, sondern eine Seuche
ist, die zu bekämpfen jeder Hindu die Pflicht und Schuldigkeit hat. Deshalb
sollte jeder Hindu, der das Berühren eines „Unberührbaren“ für eine Sünde hält,
sich, um das wiedergutzumachen, mit Unberührbaren verbrüdern und sich mit ihnen
im Geist von Liebe und Dienst verbünden. Er soll sich selbst dadurch für
gereinigt halten, dass er ihre Beschwerden wiedergutmacht, geduldig dazu
beiträgt, dass sie ihre Unwissenheit und andere Übel, die sie der uralten
Sklaverei verdanken, überwinden und er soll andere Hindus dazu anregen, ebenso
zu handeln.
Wenn
wir uns die Aufhebung der Unberührbarkeit vom spirituellen Gesichtspunkt aus
vorstellen, werden die materiellen und politischen Ergebnisse unbedeutend und
wir befreunden uns mit den sogenannten Unberührbaren, ganz gleich, was dabei
herauskommt. Die nach Wahrheit streben, werden keinen einzigen Gedanken an die
materiellen Folgen ihrer Suche verschwenden, denn diese ist keine Angelegenheit
der Politik, sondern etwas, das in den Stoff ihres Lebens eingewebt ist.
Wenn
wir uns die höchste Wichtigkeit dieses Grundsatzes klarmachen, entdecken wir,
dass das Übel, das wir damit bekämpfen wollen, nicht auf die unterdrückten
Klassen beschränkt ist. Ein Übel, das zuerst so klein wie ein Senfkorn ist,
nimmt schon bald riesige Ausmaße an und zerstört mit der Zeit das, worauf es
sich festgesetzt hat. Auf diese Weise hat dieses Übel jetzt alle Bereiche des
Lebens angefallen. Wir haben wegen der nicht enden wollenden Waschungen und der
besonderen Essenszubereitung, die wegen der falschen Vorstellung von
Unberührbarkeit notwendig ist, kaum genügend Zeit, um wirklich für uns zu
sorgen. Während wir vorgeben, zu Gott zu beten, verehren wir nicht Gott,
sondern uns selbst.
Deshalb
befolgen wir diesen Grundsatz nicht nur dadurch, dass wir uns mit
„Unberührbaren“ anfreunden, sondern auch dadurch, dass wir alles Leben wie uns
selbst lieben. Aufhebung der Unberührbarkeit bedeutet Liebe und Dienst für die
ganze Welt und das verschmilzt zu Ahimsa.
Aufhebung der Unberührbarkeit bedeutet, alle Schranken zwischen den Menschen
und den unterschiedlichen Seinsordnungen niederreißen. Solche Schranken finden
wir überall in der Welt, aber hier geht uns hauptsächlich Unberührbarkeit etwas
an, die in Indien religiöse Anerkennung gefunden hat und die Hunderttausende
und Millionen Menschen in eine Lage versetzen, die an Sklaverei grenzt.
9.
„BROTARBEIT“
Das
Gesetz, dass der Mensch arbeiten muss, um zu leben, begegnete mir zum ersten
Mal, als ich Tolstois Schrift über „Brotarbeit“ las. Aber schon davor hatte ich
dieser gehuldigt, nachdem ich Ruskins Unto
This Last[5]
gelesen hatte. Das göttliche Gesetz, dass der Mensch sein Brot verdienen muss,
indem er mit seinen Händen arbeitet, betonte zuerst der russische Schriftsteller
T. M. Bondaref [1820 – 1898].
Tolstoi kündigte dessen Werk an und verschaffte ihm eine weitere
Öffentlichkeit. Meiner Ansicht nach wird dasselbe Prinzip im dritten Kapitel
der Gita[6]befürwortet: Der, der isst, ohne ein Opfer zu bringen, isst Gestohlenes.
Opfer kann hier nur Brotarbeit bedeuten.
Auch
die Vernunft bringt uns zu derselben Schlussfolgerung. Wie kann ein Mensch, der
keine körperliche Arbeit verrichtet, das Recht zum Essen haben? „Im Schweiße
deines Angesichts wirst du dein Brot essen“, heißt es in der Bibel. Ein
Millionär wird es nicht lange aushalten und wird seines Lebens müde, wenn er
sich den ganzen Tag im Bett wälzt und man ihm auch noch das Essen serviert.
Deshalb macht er sich durch körperliche Übungen Hunger, um Appetit zu bekommen.
Wenn einer, ob reich oder arm, nun irgendwelche Übungen braucht, warum sollte
er sich die nicht auf produktive Weise verschaffen, d. h. indem er Brotarbeit
verrichtet? Niemand verlangt von einem Bauern, dass er Atemübungen macht oder
seine Muskeln trainiert. Und mehr als neun Zehntel der Menschen leben vom
Ackerbau. Wie viel glücklicher, gesünder und friedlicher würde die Welt werden,
wenn das übrige Zehntel dem Beispiel der überwältigenden Mehrheit folgte,
wenigstens insoweit, dass es so viel arbeitete, dass es für seine Nahrung
reicht! Und viele Nöte, die mit dem Ackerbau verbunden sind, würden leicht
gutgemacht, wenn auch diese Leute Hand anlegten. Auch dadurch würden verhasste
Rangunterschiede abgeschafft, wenn jeder ohne Ausnahme auch seine Verpflichtung
zur Brotarbeit anerkennen würde. In allen Varnas
[Kasten] gibt es einen weltweiten Konflikt zwischen Kapital und Arbeit und
zwischen Arm und Reich. Wenn alle für ihr Brot arbeiteten, würden die
Rangunterschiede ausgelöscht. Es gäbe zwar noch Reiche, aber sie würden sich
nur für Verwalter ihres Eigentums halten und würden es hauptsächlich im
öffentlichen Interesse nutzen.
Brotarbeit
ist ein wahrer Segen für alle, die Gewaltfreiheit ausüben, die Wahrheit
verehren und Brahmacharya als
natürliches Verhalten beobachten. Diese Arbeit kann in Wahrheit nur auf den
Ackerbau bezogen sein. Aber zurzeit sind nicht alle in der Lage, ihn zu
betreiben. Deshalb können die Menschen auch spinnen oder weben oder tischlern
oder Schmiedearbeit verrichten, anstatt den Boden zu bearbeiten, allerdings ist
Ackerbau immer als das Ideal zu betrachten. Jeder ist sein eigener Unratbeseitiger.
Sich entleeren ist ebenso wichtig wie essen und das Beste für alle wäre, wenn
sie ihren eigenen Unrat beseitigten. Wenn das unmöglich ist, sollte jede
Familie ihren eigenen Unrat beiseite schaffen. Seit Jahren denke ich, dass dort
etwas vollkommen falsch läuft, wo das Unratbeseitigen zur Aufgabe einer besonderen
Gesellschaftsklasse gemacht wird. Wir kennen keinen historischen Bericht über
den Menschen, der als erster diesem wesentlichen sanitären Dienst den
niedrigsten Status zuordnete. Wer es auch gewesen sein mag, damit hat er
durchaus nichts Gutes getan! Wir sollten von früher Kindheit an den Gedanken
eingebläut bekommen, dass wir alle Unratbeseitiger sein sollen, und die
einfachste Weise, das zu sein, ist für uns alle, dass wir uns klarmachen, dass
Brotarbeit mit dem Unratbeseitigen beginnt. Wenn Unratbeseitigen auf kluge
Weise vorgenommen wird, wird es uns zur wahren Anerkennung der Gleichwertigkeit
der Menschen verhelfen.
10.
TOLERANZ, d. h. GLEICHWERTIGKEIT DER RELIGIONEN – I
Ich
mag das Wort Toleranz nicht, aber mir fällt kein besseres ein. Toleranz kann
die grundlose Annahme bedeuten, andere Glaubensbekenntnisse wären weniger wert
als das eigene, während Ahimsa uns
lehrt, allen religiösen Glaubensbekenntnissen dieselbe Achtung wie unserem
eigenen entgegenzubringen und damit die Unvollkommenheit des unseren
einzugestehen. Dieses Eingeständnis macht ein Wahrheitssuchender bereitwillig,
einer, der das Gesetz der Liebe befolgt. Wenn wir den vollkommenen Anblick der
Wahrheit erreicht hätten, wären wir keine bloß Suchenden mehr, sondern wir
wären eines mit Gott geworden, denn die Wahrheit ist Gott. Aber da wir erst
Suchende sind, verfolgen wir unsere Suche und sind uns unserer Unvollkommenheit
bewusst. Und wenn wir selbst unvollkommen sind, muss auch die Religion, wie wir
sie auffassen, unvollkommen sein. Wir erkennen unsere Religion nicht in ihrer Vollkommenheit,
ebenso wenig wie wir Gott erkennen. Religion, wie wir sie auffassen, ist immer
unvollkommen und Gegenstand eines Entwicklungs- und
Neuinterpretations-Prozesses. Fortschritt in Richtung Wahrheit, in Richtung
Gott, ist nur möglich aufgrund einer solchen Entwicklung. Und wenn alle vom
Menschen skizzierten Glaubensbekenntnisse unvollkommen sind, stellt sich die
Frage nicht, welche bei einem Vergleich am besten abschneidet. Alle
Glaubensbekenntnisse stellen eine Offenbarung der Wahrheit dar, aber alle sind
unvollkommen und dem Irrtum unterworfen. Respekt vor anderen Bekenntnissen
bedeutet nicht, dass wir blind für ihre Fehler wären. Wir müssen auch auf Fehler
unseres eigenen Glaubens sehr aufmerksam sein, sollen ihn deshalb jedoch nicht
verlassen, sondern versuchen, diese Fehler zu überwinden. Wenn wir alle
Religionen gleich aufmerksam betrachten, werden wir nicht nur nicht zögern,
jede annehmbare Eigenschaft anderer Glaubensbekenntnisse in unseren Glauben
aufzunehmen, sondern das für unsere Pflicht halten.
Die
Frage stellt sich: Warum muss es so viele verschiedene Glaubensrichtungen
geben? Die Seele ist eine einzige, aber die Körper, die sie belebt, sind viele.
Wir können die Anzahl der Körper nicht verringern, und doch erkennen wir die
Einheit der Seele. Ebenso wie ein Baum nur einen einzigen Stamm, aber viele
Äste und Zweige hat, so gibt es eine wahre und vollkommene Religion, aber sie
wird zu vielen, wenn sie in den Menschen eingeht. Diese eine Religion liegt
jenseits aller Sprache. Der unvollkommene Mensch setzt sie in die Sprache, die
er beherrscht, und andere Menschen interpretieren ihre Worte ebenso
unvollkommen. Welche Interpretation sollen wir für die richtige halten? Von
seinem Standpunkt aus hat jeder Recht, aber es ist auch nicht unmöglich, dass
sich alle irren.
Deswegen
ist Toleranz notwendig. Toleranz bedeutet jedoch nicht Gleichgültigkeit gegen
den eigenen Glauben, aber doch klügere und reinere Liebe dafür. Toleranz
verhilft uns zur spirituellen Einsicht; diese ist von Fanatismus so weit
entfernt wie der Nord- vom Südpol. Wahre Kenntnis der Religion reißt alle
Schranken zwischen einem und dem anderen Glauben nieder. Wenn wir Toleranz für
einen anderen Glauben üben, werden wir den unseren besser verstehen.
Toleranz
stört offensichtlich nicht die Unterscheidung zwischen richtig und falsch und
zwischen gut und böse. Wir beziehen uns hier natürlich auf alle
Hauptbekenntnisse in der Welt. Sie alle haben eine gemeinsame Grundlage. Sie
alle haben große Heilige hervorgebracht.
11.
TOLERANZ, d. h. GLEICHWERTIGKEIT DER RELIGIONEN – II
Ich
will noch eine Weile bei der Toleranz bleiben. Meine Ansicht wird vielleicht
deutlicher, wenn ich einige meiner Erfahrungen darstelle. Im Phoenix-Aschram
hielten wir unsere täglichen Gebeten auf dieselbe Weise wie im
Sabarmati-Aschram und Muslime nahmen ebenso daran teil wie Christen und Hindus.
Der verstorbene Rustomji Sheth und seine Kinder kamen oft zu den Versammlungen. Rustomji Sheth mochte den Bhajan in Gujarati ‘Mane valun’, „Lieb, lieb ist mir der Name Ramas“. Wenn mein
Gedächtnis mich nicht täuscht, leitete Maganlal oder Kashi einmal unseren
Hymnengesang, als Rustomji Sheth fröhlich ausrief: „Sagt den Namen Hormazd
anstatt des Namens Rama!“ Sein Vorschlag wurde bereitwillig aufgenommen und
danach setzten wir immer, wenn Sheth dabei war, oder manchmal auch, wenn er
nicht dabei war, den Namen Hormazd an die Stelle von Rama. Der verstorbene
Husain, Daud Sheths Sohn, war oft im Phoenix-Aschram und nahm begeistert an den
Gebeten teil. Zur Orgelbegleitung sang er mit sehr schöner Stimme das Lied ‘Hai bahare bagh’, „Der Garten der Welt
blüht nur für den Augenblick“. Er brachte uns allen dieses Lied bei und wir
sangen auch das in den Gebetsversammlungen. Dass wir dieses Lied in unser Bhajanavali
aufnahmen, war ein Tribut an das Gedächtnis des wahrheitsliebenden Husains.
Ich bin nie einem jungen Mann begegnet, der ergebener Wahrheit praktizierte als
Husain. Joseph Royeppen kam oft nach
Phoenix. Er ist Christ und sein Lieblingsgesang war ‘Vaishnava jana’, „Er ist ein Vaishnava
(Diener des Herrn) und hilft Menschen in Not”. Er liebte die Musik und
einmal sang er diesen Gesang und sagte „Christ“ anstelle von Vaishnava. Die anderen akzeptierten
seine Lesart bereitwillig und ich sah, dass das Josephs Herz mit Freude
erfüllte.
Als
ich zu meinem eigenen Vergnügen in den heiligen Büchern verschiedener
Glaubensrichtungen blätterte, wurde ich für meinen Zweck ausreichend mit
Christentum, Islam, Zoroasterglauben, Judentum und Hinduismus vertraut. Ich
kann sagen, dass mir, als ich diese Texte las, alle Glaubensrichtungen gleich
nahe waren, allerdings war mir das damals nicht bewusst. Wenn ich mein
Gedächtnis dieser Tage auffrische, bemerke ich, dass ich niemals auch nur den
leisesten Wunsch hatte, auch nur eine dieser Religionen, nur weil sie nicht die
meine war, zu kritisieren, sondern ich las alle diese heiligen Bücher im Geiste
der Ehrfurcht und ich fand in allen dieselbe grundlegende Moralität. Einiges
verstand ich damals nicht und auch heute verstehe ich es nicht, aber die
Erfahrung hat mich gelehrt, dass es ein Fehler ist, vorschnell zu denken, dass
das, was wir nicht verstehen können, falsch sein muss. Einiges, was ich zuerst
nicht verstand, wurde mir inzwischen deutlich wie das Tageslicht. Gleichmut
trägt dazu bei, dass wir viele Schwierigkeiten auflösen und auch, wenn wir
etwas kritisieren, so drücken wir uns demütig und höflich aus, sodass es keinen
Stachel in Fleisch des Kritisierten hinterlässt.
Dass
ich die Lehre von der Gleichwertigkeit der Religionen akzeptiere, bedeutet
nicht, dass ich die Unterschiede zwischen Religion und Irreligion verkenne. Wir
schlagen durchaus nicht vor, Irreligionen zu tolerieren. Da das so ist, mögen
manche einwenden, dass Gleichmut kein Raum gelassen würde, wenn jeder selbst
darüber entscheidet, was Religion und was Irreligion ist. Wenn wir das Gesetz
der Liebe befolgen, sollen wir den irreligiösen Bruder nicht hassen. Im
Gegenteil, wir sollen ihn lieben und deshalb werden entweder wir ihn dazu
bringen, den Irrtum seines Weges einzusehen, oder er wird uns auf unseren
Irrtum hinweisen, oder wir werden beide unsere Meinungsverschiedenheit
tolerieren. Wenn der andere nicht das Gesetz der Liebe befolgt, wird er
vielleicht gewalttätig gegen uns. Wenn wir jedoch wahre Liebe zu ihm empfinden,
wird sie am Ende seine Bitterkeit überwinden. Alle Hindernisse auf unserem Weg
werden verschwinden, wenn wir nur die goldene Regel einhalten, dass wir mit
denen, von denen wir meinen, sie seien im Irrtum, nicht ungeduldig werden.
Stattdessen müssen wir bereit sein, wenn es nötig ist, selbst zu leiden.
12.
DEMUT
Demut
kann kein Grundsatz an sich sein, denn sie steht nicht zum willkürlichen
Gebrauch bereit. Sie ist jedoch eine unverzichtbare Prüfung von Ahmisa. In einem, der Ahimsa in sich hat, wird sie zu einem
Teil seines Wesens.
Ein
früher Entwurf der Regeln und Verordnungen des
Satyagraha-Aschrams wurde an
die Freunde verteilt, auch an den verstorbenen Sir Gurudas Banerji (1844-1918).
Er schlug vor, dass Demut einen Platz unter den Grundsätzen bekommen sollte. Diesen
Vorschlag konnten wir damals aus den eben genannten Gründen nicht annehmen.
Aber
obwohl Demut nicht zu den Grundsätzen gehört, ist sie gewiss ebenso wichtig wie
jeder andere, und vielleicht sogar wichtiger. Nur hat niemand Demut durch Übung
erlernt. Wahrheit kann ebenso wie Liebe gepflegt werden. Aber Demut pflegen
bedeutet ebenso viel wie Heuchelei pflegen. Demut darf hier nicht mit einer bloßen
Angelegenheiten der Etikette verwechselt werden. Jemand demütigt sich vielleicht
einmal vor einem anderen, obwohl sein Herz voller Bitterkeit gegen diesen ist.
Dies ist aber nicht Demut, sondern Hinterlist. Jemand mag Ramanama chanten oder
seine Perlen zählen und sich in Gesellschaft wie ein Weiser benehmen, aber wenn
er im Herzen selbstsüchtig ist, ist er nicht bescheiden, sondern er heuchelt.
Ein
demütiger Mensch ist sich seiner Demut nicht bewusst. Wahrheit und dergleichen
sind messbar, Demut nicht. Angeborene Demut kann niemals bestehen bleiben und
doch ist sich ihr Besitzer ihres Vorhandenseins nicht bewusst. Der Mythos von
Vasishtha und Vishvamitra[7]
stellt einen sehr guten Fall zu diesem Thema dar. Demut sollte ihrem Besitzer
klarmachen, dass er ein Nichts ist. Sobald wir uns vorstellen, wir wären etwas,
werden wir egoistisch. Wenn jemand, der Grundsätze einhält, darauf stolz ist,
verlieren diese viel an Wert, wenn nicht sogar ihren gesamten Wert. Und viele,
die stolz auf ihre Tugend sind, werden zu einem Fluch für die Gesellschaft. Die
Gesellschaft schätzt das nicht und er wird keine Früchte davontragen. Wenn wir
etwas nachdenken, werden wir einsehen, dass alle Geschöpfe nicht mehr als bloße
Atome in diesem Universum sind. Unsere Existenz als verkörperte Wesen ist
flüchtig; was sind schon hundert Jahre in der Ewigkeit? Aber wenn wir die
Ketten des Egoismus zerreißen und im Ozean der Menschheit aufgehen, haben wir Anteil
an ihrer Würde. Das Gefühl, wir wären etwas, errichtet eine Schranke zwischen
Gott und uns. Wenn wir aufhören zu meinen, wir wären etwas, werden wir eins mit
Gott. Ein Tropfen im Ozean hat Teil an der Größe seines Ursprungs, auch wenn
ihm das nicht bewusst ist. Aber er vertrocknet, sobald er in eine Existenz
außerhalb des Ozeans eintritt. Wir übertreiben nicht, wenn wir sagen: Das Leben
auf der Erde ist nur eine Luftblase.
Ein
Leben des Dienstes muss ein Leben der Demut sein. Wer sein Leben für andere
opfert, hat wohl kaum Zeit, für sich einen Platz an der Sonne zu reservieren.
Trägheit darf nicht als Demut missverstanden werden, wie das gelegentlich im
Hinduismus geschieht. Wahre Demut bedeutet äußert anstrengendes und ständiges
Bemühen um den Dienst an der Menschheit. Gott ist unaufhörlich tätig, ohne dass
er auch nur einen einzigen Augenblick ruht. Wenn wir Ihm dienen oder mit ihm
eins werden wollen, muss unsere Tätigkeit ebenso unermüdlich sein wie Seine. Es
mag für den Tropfen, der vom Ozean, der keine Ruhe kennt, getrennt ist, eine
vorübergehende Ruhepause geben. So ergeht es auch uns. Sobald wir eins mit dem
Ozean in der Gestalt Gottes werden, finden wir keine Ruhe mehr und wir brauchen
auch keine mehr. Noch unser Schlaf ist Tätigkeit. Denn wir schlafen mit dem
Gedanken an Gott in unserem Herzen. Diese Ruhelosigkeit erzeugt wahre Ruhe.
Diese nie endende Tätigkeit enthält den Schlüssel zum unsäglichen Frieden.
Dieser höchste Zustand vollkommener Unterwerfung ist zwar schwer zu
beschreiben, doch nicht jenseits menschlicher Erfahrung. Viele ergebene Seelen
haben ihn erreicht und vielleicht erreichen auch wir ihn. Dieses Ziel haben wir
Satyagraha-Aschrambewohner uns
gesetzt. All unsere Grundsätze und Tätigkeiten sind darauf angelegt, dazu
beizutragen, es zu erreichen. Wir werden es eines Tages ganz unbemerkt
erreichen, wenn wir die Wahrheit in uns haben.
13.
BEDEUTSAMKEIT VON GELÜBDEN
Ich
habe schon kurz über die Bedeutsamkeit von Gelübden geschrieben, aber es ist
vielleicht notwendig, ihren Einfluss auf ein gutes Leben recht ausführlich zu
betrachten. Es gibt eine mächtige Schule von Denkern, die die Einhaltung von
bestimmten Regeln für richtig halten, die aber die Notwendigkeit von Gelübden
nicht anerkennen. Sie gehen sogar so weit zu behaupten, Gelübde wären ein
Zeichen von Schwäche und könnten sogar schaden. Sie führen an, dass, wenn eine
Regel sich später als ungünstig oder sündhaft erweist, es ganz gewiss falsch
sei, nach dieser Entdeckung noch daran festzuhalten. Sie sagen: Es ist gut,
sich vom Alkohol fernzuhalten, aber was schadet es, ihn gelegentlich oder aus
medizinischen Gründen zu sich zu nehmen? Ein Gelübde vollkommener Abstinenz
wäre eine nutzlose Behinderung. Und wie es sich mit Alkohol verhalte, so auch
mit anderem.
Ein
Gelübde bedeutet unnachgiebige Entschlossenheit und bewahrt uns vor
Versuchungen. Entschlossenheit ist nichts wert, wenn sie sich dem Unbehagen
beugt. Die universelle Menschheitserfahrung stützt die Ansicht, Erfolg sei ohne
unbeugsame Entschlossenheit unmöglich. Es kann kein Gelübde geben, eine Sünde
zu begehen. Ein Gelübde, das zuerst verdienstvoll erschien, das sich später
aber als sündhaft erweist, muss notwendig aufgegeben werden. Doch niemand legt
in zweifelhaften Angelegenheiten ein Gelübde ab, oder sollte es jedenfalls
nicht tun. Gelübde können nur für etwas abgelegt werden, bei dem universelle
Prinzipien anerkannt werden. Die Möglichkeit der Sündhaftigkeit ist in diesem
Fall mehr oder weniger unwirklich. Ein Anhänger der Wahrheit kann sich nicht
damit aufhalten zu überlegen, ob jemand durch die Wahrheit verletzt wird, denn
er glaubt, dass Wahrheit niemals schaden kann. So ist es auch mit der absoluten
Abstinenz. Der Abstinenzler macht entweder hinsichtlich Medizin eine Ausnahme
oder ist bereit, sein Leben in Erfüllung des vollen Gelübdes aufs Spiel zu
setzen. Was macht es aus, wenn wir unser Leben zufällig durch ein Gelübde
vollkommener Abstinenz verlieren? Es gibt keine Garantie dafür, dass unser
Leben durch Alkohol verlängert wird, und selbst wenn für den Augenblick das
Leben auf diese Weise verlängert wird, kann es leicht bald durch etwas anderes
beendet werden. Andererseits wird das Beispiel von Menschen, die eher ihr Leben
hergeben, als dass sie ihr Gelübde brechen, wahrscheinlich Trinker vom Alkohol
entwöhnen und auf diese Weise zu einer großen Kraft für das Gute in der Welt
werden. Nur die können hoffen, einmal Gott zu schauen, die sich großmütig
entschlossen haben, Zeugnis für den Glauben, den sie in sich tragen, abzulegen,
auch wenn es sie das Leben kostet.
Ein
Gelübde ablegen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Wenn man um
jeden Preis etwas tut, das getan werden muss, begründet das ein Gelübde. Es
wird zu einem Bollwerk der Stärke. Einer, der sagt, er wolle etwas „soweit möglich“ tun, betrügt entweder seinen Stolz
oder seine Schwäche. In meinem eigenen Fall habe ich ebenso wie in dem anderer
bemerkt, dass die Begrenzung von „soweit möglich“ ein fatales Schlupfloch ist.
Etwas „soweit möglich“ tun, heißt, dass man der ersten besten Versuchung
anheimfällt. Es hat keinen Sinn zu sagen, man wolle die Wahrheit „soweit
möglich“ befolgen. Ebenso wie ein Geschäftsmann eine Notiz zurückweist, in der
jemand verspricht, „soweit möglich“ zu einem bestimmten Datum eine bestimmte
Summe zu zahlen, weist Gott eine Bemerkung zurück, mit der jemand verspricht,
„soweit möglich“ der Wahrheit zu folgen.
Gott
ist das Bild eines Gelübdes. Gott würde aufhören, Gott zu sein, wenn Er auch
nur um Haaresbreite von seinen Gesetzen abweichen würde. Die Sonne hält alle
ihre Grundsätze ein, deshalb können wir die Zeit messen und Kalender
veröffentlichen. Alle Geschäfte hängen davon ab, dass Menschen ihre Versprechen
halten. Sind solche Versprechen weniger notwendig bei der Charakterbildung oder
bei der Selbstverwirklichung? Deshalb sollten wir die Notwendigkeit von
Gelübden für Selbstreinigung und Selbstverwirklichung niemals anzweifeln.
14. YAJNA ODER OPFER
Häufig
gebrauchen wir das Wort Yajna. Wir
haben das Spinnen in den Rang des täglichen Mahayajna
(grundlegenden Opfers) erhoben. Deshalb ist es notwendig, über die
verschiedenen Implikationen des Wortes Yajna
nachzudenken. Yajna bedeutet ein
Handeln für das Wohlergehen anderer, ohne dass der Wunsch besteht, etwas dafür
zurückzubekommen, sei es zeitlich oder spirituell. „Handeln“ ist hier im
weitesten Sinne des Wortes zu verstehen: Gedanken und Worte gehören ebenso dazu
wie Taten. „Andere“ umfasst nicht nur die Menschheit, sondern alles Leben.
Darum und auch vom Standpunkt von Ahimsa
aus ist das Opfern selbst niederer Tiere nicht Yajna, nicht einmal im Hinblick auf den Dienst an der Menschheit.
Es spielt keine Rolle, dass Tieropfer angeblich einen Platz in den Veden
gefunden haben. Uns genügt, dass ein solches Opfer die grundlegende Prüfung von
Wahrheit und Gewaltfreiheit nicht besteht. Ich gebe meine Inkompetenz
hinsichtlich der Wissenschaft von den Veden bereitwillig zu. Aber die
Inkompetenz hinsichtlich dieses Themas beunruhigt mich nicht, denn selbst wenn bewiesen
wäre, dass die Praxis des Tieropfers eine Eigenart der vedischen Gesellschaft
war, kann es für einen Verehrer von Ahimsa
keinen Präzedenzfall bilden.
Noch
einmal: ein vorrangiges Opfer muss eine Handlung sein, die dem meisten
Wohlergehen der größten Zahl auf dem weitesten Gebiet dient und die von der
größten Anzahl von Männern und Frauen mit den geringsten Schwierigkeiten
ausgeführt werden kann. Deshalb ist es nicht Yajna und noch viel weniger Mahayajna,
irgendeinem anderen etwas Böses zu wünschen oder zu tun, nicht einmal, um einem
sogenannten höheren Interesse zu dienen. Die Gita lehrt und Erfahrung bestätigt es, dass alles Handeln, das
nicht unter die Kategorie Yajna
fällt, Knechtschaft fördert.
Ohne
Yajna in diesem Sinn kann die Welt
keinen Augenblick fortbestehen. Die Gita
handelt, nachdem im zweiten Kapitel von wahrem Wissen die Rede war, im dritten
Kapitel von den Mitteln, mit denen Yajna
zu erreichen ist und erklärt mit vielen Worten, dass Yajna gleichzeitig mit der Schöpfung entstand. Dieser Körper ist
uns deshalb dafür gegeben, dass wir mit ihm der gesamten Schöpfung dienen. Und
darum heißt es in der Gita: Jeder,
der isst, ohne Yajna zu opfern, isst
gestohlene Nahrung. Jede einzelne Handlung von einem, der ein Leben der Reinheit
führt, sollte im Wesen Yajnas
geschehen. Yajna wurde uns bei der
Geburt gegeben, unser Leben lang sind wir Schuldner und deshalb für immer
verpflichtet, dem Universum zu dienen. Und da sogar ein Leibeigener Nahrung,
Kleidung und so weiter von dem Herrn bekommt, dem er dient, so sollten wir dankbar
dergleichen Gaben empfangen, die uns der Herr des Universums zuweist. Was wir
empfangen, müssen wir Geschenk nennen, denn als Schuldner haben wir keinen
Anspruch darauf, von unseren Pflichten entbunden zu werden. Deshalb dürfen wir
nicht dem Herrn die Schuld geben, wenn uns das nicht gelingt. Er kann, ganz
nach Seinem Willen, unseren Körper nähren oder wegwerfen. Darüber dürfen wir
uns nicht beschweren und wir dürfen uns nicht einmal dafür bedauern, im
Gegenteil: Es ist ein natürlicher und sogar angenehmer und wünschenswerter
Zustand, wenn wir nur den uns zustehenden Platz in Gottes Plan einnehmen. Wir
brauchen tatsächlich einen starken Glauben, wenn wir diesen höchsten Segen erfahren
wollten. „Sorge dich nicht im Geringsten um dich, überlasse alle Sorge Gott“ –
das ist wohl das Gebot in allen Religionen.
Dieser
Mangel macht niemandem Angst. Wer sich mit reinem Gewissen dem Dienst widmet,
wird Tag für Tag in zunehmendem Maße die Notwendigkeit dafür erkennen und wird
ständig im Glauben zunehmen. Der Pfad des Dienstes kann kaum von einem begangen
werden, der nicht bereit ist, auf Eigeninteresse zu verzichten und der die
Bedingungen seiner Geburt nicht anerkennt. Bewusst oder unbewusst leistet jeder
von uns den einen oder anderen Dienst. Wenn wir die Gewohnheit pflegen, diesen
Dienst bewusst zu leisten, wird unser Wunsch zu dienen ständig stärker und wird
nicht nur dazu führen, dass wir selbst glücklich sind, sondern auch dazu, dass
die Welt im Ganzen glücklich ist.
15.
MEHR ÜBER YAJNA
Letzte
Woche habe ich über Yajna geschrieben,
aber ich denke, ich sollte noch mehr darüber schreiben. Über ein Prinzip, das
zugleich mit der Menschheit geschaffen wurde, Betrachtungen anzustellen, ist es
vielleicht wert.
Yajna
ist die Pflicht, die vierundzwanzig Stunden am Tag getan, oder der Dienst, der
ebenso lange geleistet werden muss, und deshalb ist ein Maximum wie das
Verfolgen von Wohltätigkeit unangemessen, wenn es uns in irgendeiner Weise gefällt.
Wenn wir dienen, ohne den Wunsch zu dienen, tun wir nicht anderen, sondern uns
selbst einen Gefallen. Selbst wenn wir eine Schuld zurückzahlen, dienen wir nur
uns selbst, denn wir werfen eine Last ab und erfüllen unsere Pflicht.
Ferner:
Nicht nur die Guten, sondern wir alle müssen unsere Ressourcen der Menschheit
zur Verfügung stellen. Und wenn das das Gesetz ist, was es offensichtlich ja
ist, hat die Nachlässigkeit keinen Platz im Leben und weicht dem Verzicht. Die
Pflicht zum Verzicht unterscheidet den Menschen vom wilden Tier.
Einige
wenden ein, auf diese Weise werde das Leben langweilig, sei ohne Kunst und
lasse keinen Raum dafür, einem Haus vorzustehen. Aber Verzicht bedeutet hier
nicht, die Welt verlassen und sich in den Wald zurückziehen. Der Geist des
Verzichts sollte alles Tun im Leben lenken. Ein Haushaltsvorstand hört nicht
auf, einer zu sein, wenn er das Leben als Pflicht und nicht als Genuss
betrachtet. Einem Händler, der im Opfer-Geist Handel treibt, gehen Millionen
durch die Hände, aber, wenn er dem Gesetz folgt, will er seine Möglichkeiten
zum Dienst nutzen. Deshalb wird er weder betrügen noch spekulieren, wird ein
einfaches Leben führen, wird kein Lebewesen verletzen und wird eher Millionen
verlieren, als jemandem zu schaden. Wir wollen es niemandem durchgehen lassen,
wenn er behauptet, solche Händler existierten nur in meiner Fantasie. Zum Glück
für die Welt gibt es sie im Westen ebenso wie im Osten. Es stimmt, derartige
Händler kann man an seinen Fingern abzählen, aber dieser Typ hört auf, nur in
der Fantasie zu existieren, sobald auch nur ein lebendes Exemplar zu finden
ist, das dem entspricht. Wir alle haben von einem philanthropischen Schneider
in Wadhwan gehört. Ich kenne einen solchen Barbier. Wir alle kennen einen
solchen Weber. Und wenn wir uns in die Sache vertiefen, treffen wir Menschen in
allen Lebensbereichen an, die ein hingebungsvolles Leben führen. Zweifellos
verdienen diese Opferbereiten ihren Lebensunterhalt mit ihrer Arbeit. Aber es
geht ihnen nicht vor allem um den Lebensunterhalt, der ist nur ein Nebenprodukt
ihrer Berufung. Motilal war zuerst Schneider und auch später war er Schneider.
Aber sein Geist änderte sich und seine Arbeit wurde zum Gottesdienst. Er dachte
an das Wohlergehen anderer und sein Leben wurde im wahren Sinne des Wortes zu
einem Kunstwerk. Ein Leben der Aufopferung ist der Gipfel der Kunst und voller
wahrer Freude. Yajna ist nicht Yajna, wenn man Yajna beschwerlich und langweilig findet. Selbstgenuss führt zur
Vernichtung und Verzicht zu Unmoral. Freude existiert nicht unabhängig. Sie
hängt von unserer Lebenseinstellung ab. Einer genießt eine Szene im Theater,
ein anderer die sich immer neu entfaltenden Szenen am Himmel. Freude ist daher
eine Sache der individuellen und nationalen Erziehung. Wir freuen uns an
Dingen, an denen uns zu freuen wir als Kinder gelehrt worden sind. Beispiele
finden sich leicht im unterschiedlichen Nationalgeschmack. Ferner: Viele, die
sich opfern, bilden sich ein, es stände ihnen zu, von anderen alles, was sie
brauchen, zu bekommen, wenn sie selbstlosen Dienst leisten. Diese Idee
beeinflusst einen Menschen direkt, er hört auf, ein Diener zu sein, und wird
zum Tyrannen über die Menschen.
Einer,
der dient, verschwendet keinen Gedanken an seine eigene Bequemlichkeit; er
überlässt es seinem Meister im Himmel, ob Er dafür sorgt oder nicht. Deswegen
wird er sich nicht mit allem, was ihm in den Weg kommt, belasten. Er nimmt nur,
was er unbedingt braucht, und lässt das Übrige liegen. Er ist ruhig, wird nicht
wütend und ist unerschütterlich im Geist, selbst wenn er belästigt wird. Sein
Dienst wie seine Tugend tragen ihren Lohn in sich selbst und damit ist er
zufrieden.
Ferner:
Niemand wage es, im Dienst nachlässig oder damit im Rückstand zu sein. Einer,
der meint, er müsste nur in seinen persönlichen Angelegenheiten fleißig sein
und er könne einen unbezahlten Dienst an der Allgemeinheit, wie und wann er
wolle, verrichten, muss die Grundlagen der Wissenschaft vom Opfer erst noch
erlernen. Ehrenamtlicher Dienst für andere verlangt, dass man sein
Bestmögliches gibt, und er hat Vorrang vor dem Dienst für sich selbst. In der
Tat opfert sich der reine Anhänger [der Lehre] völlig rückhaltlos für den
Dienst an der Menschheit.
16.
SWADESHI
Swadeshi ist
das Gesetz der Gesetze, das uns in der Gegenwart auferlegt ist. Spirituelle
Gesetze müssen ebenso wenig wie Naturgesetze erlassen werden. Sie erlassen sich
selbst. Aber aus Unwissenheit oder anderen Gründen vernachlässigen viele es
oder gehorchen ihm nicht. Dann brauchen sie Gelübde, die sie in ihrem Kurs
festigen. Jemand, der seiner Veranlagung nach Vegetarier ist, braucht kein
Gelübde, das seinen Vegetarismus stärkt, denn schon der Anblick von Tieren als
Nahrung bringt ihn nicht in Versuchung, sondern erweckt seinen Ekel. Das Gesetz
von Swadeshi ist tief im menschlichen
Wesen verwurzelt, aber es ist heute in Vergessenheit geraten. Darum ist ein
Gelübde für Swadeshi notwendig. Im
letztgültigen und spirituellen Sinn steht Swadeshi
für die endgültige Befreiung der Seele von ihren irdischen Fesseln. Denn
dieses irdische Tabernakel ist nicht ihr natürlicher oder ständiger Aufenthalt,
es ist ein Hindernis auf ihrer Weiterreise, es steht der Verwirklichung ihres
Einsseins mit allem Leben im Weg. Ein Jünger von Swadeshi sucht sich deshalb bei seinem Streben, mit der gesamten
Schöpfung eins zu werden, von den Fesseln des physischen Körpers zu befreien.
Wenn
diese Interpretation von Swadeshi stimmt,
folgt daraus, dass ein Jünger von Swadeshi
sich als seine erste Pflicht dem Dienst an seinen unmittelbaren Nächsten
widmet. Das bedeutet, dass die Interessen aller übrigen ausgeschlossen oder
sogar geopfert werden, aber Ausschluss und Opfer sind nur scheinbar. Reiner
Dienst an unserem Nächsten kann seinem Wesen nach niemals zum Schaden der
weiter Entfernten führen, sondern eher im Gegenteil. „Wie mit dem Einzelnen, so
mit dem Universum“ ist ein unfehlbares Prinzip, das, uns zu Herzen zu nehmen,
wir gut täten. Andererseits wird nicht nur der Ehrgeiz von einem, der zulässt,
dass ihn die „entfernte Szene“ ködert und der ans andere Ende der Erde rennt,
um dort Dienst zu tun, vereitelt, sondern er versagt auch bei der Pflicht gegen
seinen Nächsten. Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Dort, wo ich wohne, habe
ich bestimmte Leute zu Nachbarn, einige Verwandte und Abhängige. Natürlich
denken alle – und dazu haben sie auch ein Recht -, dass sie einen berechtigten
Anspruch an mich haben und sie suchen meine Hilfe und Unterstützung. Man stelle
sich nun vor, ich verließe plötzlich alle und machte mich auf, um weit
Entfernten Dienste zu erweisen. Meine Entscheidung würde meine kleine
Nachbarschaftswelt aus dem Gleichgewicht bringen, während meine grundlose
Irrfahrt wahrscheinlich die Atmosphäre des neuen Ortes stören würde. So wären
meine sträfliche Vernachlässigung meiner unmittelbaren Nächsten und der
unbeabsichtigte Schaden an den Leuten, denen ich dienen möchte, die ersten
Früchte meiner Verletzung des Prinzips von Swadeshi.
Derartige
Beispiele kann man leicht vervielfachen. Darum heißt es in der Gita: „Am besten ist es, seine eigene
Pflicht, Srvadharma, zu erfüllen; Paradharma, die Pflicht eines anderen,
ist voller Gefahr“. Wenn wir das auf unsere physische Umgebung anwenden, haben
wir das Gesetz von Swadeshi. Was die Gita hinsichtlich Srvadharma sagt, gilt auch für Swadeshi,
denn Swadeshi ist auf die eigene
Umgebung angewandter Srvadharma.
Nur
wenn die Lehre von Swadeshi falsch
verstanden wird, sind ihre Ergebnisse schädlich. Zum Beispiel wäre es ein
Zerrbild der Lehre von Swadeshi, wenn
ich, nur um meine Familie zu verwöhnen, mit allen möglichen, fairen und faulen,
Mitteln darauf ausgehen würde, Geld zu beschaffen. Das Gesetz von Swadeshi verlangt nicht mehr von mir,
als dass ich mit gerechten Mitteln meine rechtmäßigen Verpflichtungen gegenüber
meiner Familie erfülle. Wenn ich das versuche, wird sich mir der universelle
Verhaltenskodex offenbaren. Das Ausüben von Swadeshi
kann nie irgendjemandem schaden, und wenn es das tut, hat mich nicht Srvadharma, sondern Egoismus in Gang
gebracht.
Es
ist durchaus möglich, dass ein Anhänger von Swadeshi
einmal aufgerufen ist, seine Familie auf dem Altar des universellen
Dienstes zu opfern. Ein solches bereitwilliges Opfern bedeutet dann den
Höchsten Dienst, der der Familie erwiesen werden kann. „Wer das Leben findet,
wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es
finden“, gilt für die Familie nicht weniger als für den Einzelnen. Ein anderes
Beispiel: Nehmen wir an, in meinem Dorf bricht eine Seuche aus. Bei dem
Versuch, die Opfer der Epidemie zu retten, wird die Existenz meiner Frau,
meiner Kinder und der übrigen Familie ausradiert. Dann habe ich damit, dass ich
meine Liebsten und Nächsten dazu gebracht habe, mich zu begleiten, nicht als
Vernichter meiner Familie gehandelt, sondern im Gegenteil als treuester Freund.
In Swadeshi ist kein Platz für
Selbstsucht, oder wenn es darin Selbstsucht gibt, dann gehört sie zu der
höchsten Art, die sich nicht von dem höchsten Altruismus unterscheidet. Swadeshi in seiner reinsten Form ist der
Höhepunkt des universellen Dienstes.
Als
ich dieser Argumentation folgte, stieß ich auf Khadi als der notwendigsten und wichtigsten Konsequenz des Prinzips
von Swadeshi in seiner Anwendung auf
die Gesellschaft. Ich fragte mich: „Welchen Dienst brauchen die vielen
Millionen Indiens zurzeit am meisten, etwas, das alle leicht verstehen und
wertschätzen können, etwas, das leicht auszuführen ist und das gleichzeitig
Millionen unserer halb verhungerten Landsleute das Leben ermöglicht?“ Dann kam
mir die Antwort: Diese Bedingungen kann allein die Verbreitung von Khadi und Spinnrad erfüllen.
Niemand
soll denken, dass die Ausübung von Swadeshi
durch Khadi die ausländischen
oder indischen Textilfabrikbesitzer schädigt! Ein Dieb, der seines Lasters
entwöhnt wird oder der dazu gebracht wird, das gestohlene Eigentum
zurückzugeben, wird dadurch nicht geschädigt. Im Gegenteil, er gewinnt, bewusst
im einen, unbewusst im anderen Fall. Ähnlich verhält es sich, wenn alle
Opium-Abhängigen und Trinker in der Welt sich von ihrem Laster befreien
könnten, so könnten die Opiumverkäufer und die Kneipenwirte, die ihre Kunden verlieren
würden, nicht Verlierer genannt werden. Sie wären die Gewinner im wahrsten
Sinne des Wortes. Wenn der Lohn der Sünde beseitigt wird, ist das niemals ein
Verlust, weder für den Betroffenen noch für die Gesellschaft, es ist reiner
Gewinn.
Die
größte Täuschung ist die Vermutung, dass die Pflicht zu Swadeshi damit anfinge und endete, dass man irgendwie Garn spinnt
und daraus gefertigte Khadi-Kleidung
trägt. Khadi ist der erste
unverzichtbare Schritt in Richtung auf die Erfüllung des Swadeshi-Dharmas für die Gesellschaft. Aber man begegnet oft
Menschen, die zwar Khadi tragen, die
aber bei anderen Waren ihren Geschmack an ausländischen Produkten genießen. Von
ihnen kann man nicht sagen, sie übten Swadeshi
aus. Sie machen nur die Mode mit. Ein Anhänger von Swadeshi beobachtet seine Umgebung genau, versucht seinen Nächsten,
soweit wie möglich, zu helfen, indem er lokale Produkte bevorzugt, selbst wenn
sie schlechter oder teurer als Produkte von woanders sind. Er versucht, die Fehler
der inländischen Produkte zu verbessern, aber er wird sie nicht wegen ihrer
Fehler zugunsten ausländischer Produkte aufgeben.
Aber
selbst Swadeshi kann, ebenso wie
anderes, zu Tode geritten und zum Fetisch gemacht werden. Das ist eine Gefahr,
vor der man sich hüten muss. Ausländische Produkte nur darum zurückweisen, weil
sie ausländisch sind, und Zeit und Geld der Nation zu verschwenden, indem man die
Produktion seines Landes von Dingen fördert, für die das Land nicht geeignet
ist, ist kriminelle Torheit und eine Absage an den Geist von Swadeshi. Kein wahrer Verehrer von Swadeshi wird jemals
Feindschaft gegen einen Fremden empfinden. Er wird nicht von Feindseligkeit
gegen irgendjemanden auf der Erde angetrieben. Swadeshismus ist kein Kult des Hasses. Er ist eine Lehre vom
selbstlosen Dienst, der im reinsten Ahimsa,
d. h. in der Liebe wurzelt.
[Den
Text über Swadeshi schrieb Gandhi
nicht 1930 im Gefängnis Yeravda Mandir, sondern nach seiner Entlassung. Er hat
nicht im Gefängnis darüber geschrieben, weil er dachte, er könnte dort nicht in
der Lage sein, dem Thema Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ohne dass er auf
das verbotene Gebiet Politik zu sprechen käme. Übersetzt hat diesen Text Shri
Pyarelal. Valji Govindji Desai.]
Zusatz:
Gandhi erklärt Satyagraha
… Keiner von uns wusste, wie wir unsere Bewegung
nennen sollten. Ich benutzte damals den Ausdruck „passiver Widerstand“, um sie
zu bezeichnen. Ich verstand die Bedeutung von „passivem Widerstand“ nicht so
ganz. Ich wusste nur, dass ein neues Prinzip entstanden war […] Deshalb
kündigten wir in Indian Opinion einen
kleinen Preis an, mit dem wir den Leser belohnen wollten, der die beste
Bezeichnung für unsere Bewegung erfinden würde. Wir bekamen einige Vorschläge.
[…] Shri Maganlal Gandhi war einer der Einsender und schlug das Wort ‘sadagraha’ vor, das , „Festigkeit in
einer guten Sache“ bedeutete. Mir gefiel das Wort, aber es bezeichnete nicht
den ganzen Gedanken, nicht alles, was ich mitbezeichnen wollte. Deshalb
verbesserte ich ihn zu ‘Satyagraha‘.
Wahrheit (Satya) schließt Liebe ein und Festigkeit (Agraha) erzeugt Kraft und dient deshalb als Synonym dafür. Also
nannte ich die indische Bewegung ‘Satyagraha‘,
das heißt, die Kraft, die aus Wahrheit und Liebe, Gewaltfreiheit, geboren ist.
Das war dann die Genesis der Bewegung, die als Satyagraha bekannt wurde
und das Wort diente als ihre Bezeichnung. […]
Herr Hosken bemerkte: „Die Transvaal-Inder […] sind
schwach und haben keine Waffen. Deshalb greifen sie zum passiven Widerstand,
der die Waffe der Schwachen ist“. […] Ich widersprach Herrn Hosken und
definierte unseren passiven Widerstand als „Seelenstärke“. […]
Brutale Kraft hatte in der indischen Bewegung unter
keinen Umständen irgendeinen Platz […] Die Satyagrahis
setzten niemals physische Kraft ein und dabei gab es durchaus Gelegenheiten,
bei denen sie in der Lage gewesen wären, sie wirksam einzusetzen. […] Wenn sie Waffen gehabt hätten, hätte es
sich die gegnerische Partei zweimal überlegt, ehe sie sie angegriffen hätte.
Darum ist verständlich, dass Menschen, die Waffen besitzen, weniger Gelegenheit
haben, Satyagraha zu leisten. […] Satyagraha
ist rein und einfach Seelenkraft, und immer wenn und in welchem Ausmaß Raum
für den Einsatz von Waffen oder physischer oder brutaler Kraft ist, im selben
Maße gibt es umso weniger Möglichkeit für Seelenkraft. Meiner Ansicht nach sind
das rein entgegengesetzte Kräfte und dieser Gegensatz war mir schon zu der Zeit
klar, als Satyagraha entstand.
Die Kraft der [Auto]Suggestion bewirkt, dass jemand
schließlich zu dem wird, der er zu sein glaubt. Wenn wir weiterhin glauben und
andere glauben lassen, wir seien schwach und wehrlos und dass wir aus diesem
Grund nur passiven Widerstand leisteten, wird uns unser Widerstand niemals
stark machen und bei der nächsten Gelegenheit geben wir den passiven Widerstand
als eine Waffe der Schwachen auf. Wenn wir andererseits Satyagrahis sind
und Satyagraha ausüben, weil wir
uns für stark halten, ergeben sich daraus eindeutig zwei Konsequenzen: Wenn wir
die Idee der Stärke fördern, werden wir von Tag zu Tag stärker. Mit der Zunahme
unserer Stärke wird unsere Satyagraha wirksamer und wir werden nicht
nach einer Gelegenheit zum Aufgeben suchen […] Während passiver Widerstand
einen Spielraum für den Einsatz von Waffen lässt, sobald sich eine passende
Gelegenheit ergibt, ist bei Satyagraha der Einsatz physischer Kraft auch
unter den günstigsten Umständen verboten. […]
Da Satyagraha und brutale Kraft einander verneinen, können sie
niemals zusammengehen. Satyagraha kann man [anders als passiven
Widerstand] auch gegenüber seinen Nächsten und Liebsten ausüben […] Bei Satyagraha
ist die Absicht, den Gegner zu verletzen, meilenweit entfernt. Satyagraha
fordert, dass man den Gegner mit
dem eigenen Leiden bekämpft. […] Jesus Christus wurde tatsächlich als
der Fürst des passiven Widerstands bezeichnet, aber ich bin überzeugt, dass in
seinem Fall mit passivem Widerstand Satyagraha gemeint war, und nur Satyagraha, […ebenso war] das
geduldige Leiden von Tausenden von frommen Christen in den frühen Tagen des
Christentums [Satyagraha]. Deshalb
würde ich sie als Satyagrahis einstufen […]
Notwendig ist auch, darauf hinzuweisen, dass ich nicht
den Anspruch erhebe, dass alle Leute, die sich Satyagrahis nennen, die
Verdienste haben, die ich als charakteristisch für Satyagraha
dargestellt habe. Ich bin mir durchaus der Tatsache bewusst, dass manch einem
sogenannten Satyagrahi Satyagraha vollkommen fremd ist.
Viele halten Satyagraha für eine Waffe der
Schwachen. Andere sagen, sie sei eine Vorbereitung auf bewaffneten Widerstand.
Aber ich muss noch einmal wiederholen: Es war nicht mein Ziel, die Satyagrahis
darzustellen, wie sie sind, sondern ich wollte die Auswirkungen von Satyagraha und die Eigenschaften der Satyagrahis, wie sie sein sollten,
darlegen.
Gandhi, M.K. Satyagraha in South Africa, transl. from
the Gujarati by Valji Govindji Desai, Nayajivan Publishing House, Ahmedabad,
1928, pp. 109-15, und Madras: Ganesan, 1928.
[1] Kamadhenu auch Surabhi genannt, ist eine
göttliche Rinder-Göttin. Sie wird auch Gou
Mata, die Mütter aller Kühe genannt. Sie ist die wunderbare „Kuh des
Überflusses“ und versorgt ihren Besitzer mit allem, was er sich wünscht.
Demut, Freisein von Stolz, Gewaltlosigkeit,
Duldsamkeit, Einfachheit, Aufsuchen eines echten spirituellen Meisters,
Sauberkeit, Unerschütterlichkeit, Selbstbeherrschung, Entsagung der Objekte der
Sinnenbefriedigung, Freisein von falschem Ego, das Erkennen des Übels von
Geburt, Tod, Alter und Krankheit, Loslösung, Freiheit von der Verstrickung mit
Kindern, Frau, Heim und so weiter, Gleichmut inmitten erfreulicher und
unerfreulicher Ereignisse, beständige und unverfälschte Hingabe zu Mir, das
Streben, sich an einen einsamen Ort zurückzuziehen, Loslösung von der
allgemeinen Masse der Menschen, Erkenntnis der Wichtigkeit der Selbstverwirklichung
und die philosophische Suche nach der Absoluten Wahrheit – all dies erkläre Ich
hiermit für Wissen, und alles andere, was es sonst noch geben mag, ist
Unwissenheit.
Die Höchste Persönlichkeit Gottes sprach: Furchtlosigkeit, Läuterung des
Daseins, Kultivierung spirituellen Wissens, Mildtätigkeit, Selbstbeherrschung,
Darbringung von Opfern, Studium der Veden, Entsagung, Einfachheit,
Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Freisein von Zorn, Entsagung,
Ausgeglichenheit, Abneigung gegen Fehlerfinden, Mitleid mit allen Lebewesen,
Freisein von Habsucht, Freundlichkeit, Bescheidenheit, feste Entschlossenheit,
Stärke, Nachsicht, Standhaftigkeit, Sauberkeit und das Freisein von Neid und
dem leidenschaftlichen Verlangen nach Ehre – diese transzendentalen
Eigenschaften, o Nachkomme Bharatas, zeichnen heilige Menschen aus, die von
göttlicher Natur sind.
[4] Das Theaterstück Harishchandra nahm mein Herz
gefangen. Ich wurde niemals müde, es zu sehen. […] Es verfolgte mich und ich
muss Harishchandra
zahllose Male in meinem Innern aufgeführt haben. „Warum sollten nicht alle so
wahrhaftig sein wie Harishchandra?”, war die Fage, die ich mir Tag und Nacht
stellte. Der Wahrheit zu folgen und alle Qualen zu erleiden, die Harishchandra erlitten
hatte, war das einzige Ideal und es inspirierte mich. Ich glaubte jedes Wort
der Geschichte von Harishchandra. Wenn ich daran dachte, musste ich oft weinen.
Heute sagt mir der gesunde Menschenverstand, dass Harishchandra durchaus kein
historischer Charakter gewesen sein kann. Und doch [… ist er eine lebendige
Realität] für mich und ich bin sicher, dieses Stück würde mich wie früher
bewegen, wenn ich es heute wiederlesen würde. https://www.mkgandhi.org/autobio/chap02.htm
[5] Ruskin,
John. Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung (Band 5): Diesem Letzten: Vier Abhandlungen über die
ersten Grundsätze der Volkswirtschaft. Leipzig 1902.
[6] Gita,
3,10 https://vedabase.io/de/library/bg/3/
Man muß seine Arbeit Viṣṇu als Opfer
darbringen, denn sonst wird man durch sie an die materielle Welt gebunden. O
Sohn Kuntīs, erfülle daher deine vorgeschriebenen Pflichten zu Seiner
Zufriedenstellung; auf diese Weise wirst du immer frei von Bindung bleiben.
[7][7]
Vishvamitra („der Freund
aller“), einer der bedeutendsten Rishis, Weisen, im
alten Indien. Bekannt wurde er durch einen heftigen Streit mit dem Rishi Vasishtha,
der ihm seine Feindseligkeiten mit grenzenloser Nachsicht vergab.