Andere “schonen”

„Wer andere schont, schont sich selbst“ ist keine moralische Bewertung – wie etwa „Liebe ist Egoismus“ -, sondern der Satz hat eine ganz praktische Bedeutung.
Er ist nur auf den Fall anzuwenden, dass jemand erwartet, dass es, wenn er einen anderen schont, dazu führt, dass dieser wiederum ihn schont. Es ist ja jedes Menschen gutes Recht, sich für das zu entscheiden, was ihm leichter zu ertragen zu sein scheint. Und das ist nicht nur von einem Menschen n zum anderen verschieden, sondern es kann auch von einer Situation zur anderen verschieden sein, weil auch das Abwägen eines Risikos eine Rolle dabei spielt, ob ich einen anderen schone oder nicht. Ich kann z.B. jemanden mit (allzu leichtfertig geäußerten) Bitten verschonen, weil ich nicht möchte, dass es ihm zu viel wird und er mich in der Folge ganz und gar hängen lässt. Andererseits gibt es Leute, die kaum eine Bitte aussprechen mögen, aus Angst, sie könnten mit der Ablehnung ihrer Bitte konfrontiert und mit dieser „Kränkung“ nicht fertigwerden. Das habe ich in der eigenen Familie bitter – und unerbittlich – erfahren.
Jemand, der sich nicht der Möglichkeit einer Kränkung aussetzen möchte, wird versuchen, sie auf die eine oder andere Weise von vornherein auszuschließen. Umgekehrt: Jemand, der meint, er könnte eine Kränkung (mehr oder weniger leicht) ertragen, wird im Umgang mit anderen nicht jede Möglichkeit dazu mit allen Mitteln auszuschließen versuchen, wird also weniger „vorsichtig“ und weniger bemüht sein, niemandem auf die Füße zu treten.
Wenn eine sich vor möglichen Enttäuschungen fürchtet, wird sie manches, dessen Gelingen ihr unsicher erscheint, lieber nicht versuchen. Es ist nun die Frage: Was erscheint ihr erträglicher, „enttäuscht“ zu werden oder eine (möglicherweise geringe, vielleicht aber auch einzigartige) Möglichkeit zu versäumen. Dieser Gedankengang hat zu meiner Lebensmaxime geführt:
„Was ich versuche, wird vielleicht etwas, was ich nicht versuche, wird bestimmt nichts.“
So ist es immer ein individuelles Abwägen und muss keinem allgemeinen gesellschaftlichen Urteil unterworfen werden.
Es läuft auf den bekannten simplen Satz hinaus: Wer sich zutraut, die möglichen Folgen zu ertragen, kann „alles“ tun. Das ist zweifellos eine allgemeingültige Einsicht, die aber wie alle ihresgleichen nur von Bedeutung ist, wenn eine sie auf ihr (tägliches) Verhalten anwendet, bzw. anwenden kann.

Systemisches Gespräch

Auszug aus: Ingrid von Heiseler, Lost in Goa. Lotos Verlag Berlin 2001.
eBuch: Lost in Goa. Fakten und Fiktion

Arno und Angela sprechen über den Sinn des Lebens (aus dem 13. Kapitel)
Arno versank in seine Gedanken. „Was für eine Reise!“, sagte er dann. „Alle achtunddreißig Jahre meines Lebens habe ich nicht so viel erlebt wie in diesen letzten Wochen! Wie konnte ich nur in all das hineingeraten? Und dann die gescheiterte Suche nach meinem Vater!“ Er erzählte von seiner großen Enttäuschung.
Sie schwiegen lange.
Dann fragte Arno plötzlich: „Was ist der Sinn?“
„Der Sinn?“
„Der Sinn des Lebens.“
„Sinn?“
„Also, was ist das Leben?“
„Sie sind in einer Krise!“
„Ja.“
„Diese Frage stellt man ja nur, wenn es einem schlecht geht.“
„Ja, ich fühle mich wirklich miserabel!“
„Was hielten Sie vor der Krise für selbstverständlich?“
„Dass ich die Frucht einer romantischen Liebe und ein Prinz bin.“
„Schöne Rolle. Und jetzt?“
„Ja, Rolle! Jetzt ist es eine schöne Rolle gewesen!“
„Früher nicht?“
„Nein, früher war es Realität.“
„Merkwürdige Realität, die sich durch eine einfache Mitteilung nachträglich ändert, finden Sie nicht? Welche Rolle haben Sie jetzt?“
„Eben keine Rolle mehr.“
„Aber Sie sind ja nun etwas anderes als Prinz und romantische Liebesfrucht.“
„Ja. Zufallsprodukt eines streunenden Zigeuners.“
„Das gefällt Ihnen nicht.“
„Gefiele Ihnen das?“
„Ihr Vater war oder ist Tonkünstler. Sind Sie musikalisch?“
„Freizeitmusiker.“
„Aha. Ihre Mutter war von ihm bezaubert.“
„Sie liebt Saxophonmusik.“
„Wie heißt dann die Geschichte?“
„Sie wollen da etwas umdrehen.“
„Was ist falscher an dieser Geschichte als an der alten? ‘Musiker bezaubert Bürgersfrau und zeugt mit ihr ein Kind der Liebe.’“
„Satire!“
„Nicht satirischer als die ältere Version.“
„Was ist das Leben?“
„Es kommt drauf an. Da Sie sich diese Frage – wie übrigens andere Leute auch – nur stellen, wenn Sie gerade in einer Krise stecken, hat die Antwort wenig Chancen, sehr positiv auszufallen.“
„Ein Spiel, sagen manche.“
„Ist die Antwort brauchbar?“
„Es kommt drauf an. Es kommt darauf an, ob ich gerade gewinne oder verliere. Wenn ich verliere, hilft mir der Gedanke: Das ist ja nur ein Spiel. Notfalls kann ich auch mit Spielen aufhören.“
„Das ist eine der Schwachstellen dieser Metapher: Ein Spiel kann man unterbrechen und wieder aufnehmen, das Leben nicht.“
„Metapher?“
„Deutungsweise. Metaphern machen sich manchmal selbständig.“
„Geschichte, Metapher – das Leben als Literatur?“
„In gewisser Weise. Vielleicht ist das eine brauchbare Metapher: Jeder schreibt seine Geschichte selbst, jedenfalls wählt jeder – bewusst oder unbewusst – seine Metaphern.“
„Ganz frei, oder?“
„Sie haben recht, natürlich nicht ganz frei. Der Inhalt ist innerhalb eines Rahmens vorgegeben. Aber die Form wählt jeder selbst. Sie können eine Tragödie oder eine Komödie, einen Trivialroman, einen Krimi oder was Sie wollen daraus machen.“
„Mir wäre lieber, Sie drückten sich direkter aus.“
„Wirklich? Das wäre umständlicher und langweiliger.“
„Alle Vergleiche hinken.“
„Ja, deshalb ist es auch besser, wenn man sich nicht an einer einzigen Metapher festhält, sondern ab und zu mal neue Bilder im Wohnzimmer aufhängt.“
„Das Leben: ein Spiel, ein Kampf, ein Fluss, eine grüne Wiese, die Hölle auf Erden, ein Theatersaal nach der Vorstellung, ‘das Leben nennt der Derwisch eine Reise’ …“
„’und eine kurze’. Ich sehe schon, Ihnen fällt genügend ein.“
„Und das wird mir helfen?“
„Ich weiß es nicht.“
Wieder schwiegen sie.

Fortsetzung von Heinrich Heines DONNA CLARA

Heinrich Heine, Donna Clara

Fortsetzung IvHei:

Rosen, Mandelblüten, Lilien:
Wie erstarrt stehn sie im Mondschein.
Claras blasses Antlitz färbt sich
Plötzlich tief mit Zornesröte.

„Schändlich habt Ihr mich betrogen!“
Finster senkt sie ihre Stirne,
Wütend stampft sie auf den Boden.
„Nie will ich Euch wiedersehen!“

„Mutter, eng wird mir das Mieder.“
„Wer von allen Rittern ist es?“
„Niemals werd ich es bekennen!“
„Wirf dich vor dem Vater nieder!“

„Geh mir aus den Augen, Dirne,
Du bist nicht mehr meine Tochter!“
Und sie schnürt ein kleines Bündel
Und verlässt das Schloss im Frühlicht.

Ziellos streift sie durch die Straßen
Saragossas, hier und dorthin.
Was soll sie jetzt nur beginnen?
Und sie wendet sich zum Ebro.

Lange steht sie unentschlossen.
„Warten will ich, bis am Abend
Mich die Wasser mit sich nehmen.“
Und sie hockt sich kläglich nieder.

Frauen kommen mit der Wäsche.
„Wer ist die? Sie ist so kostbar
Angezogen und so traurig“,
Tuscheln sie und gehen näher.

Und die eine: „Oft schon hat mir
Meine Herrin streng befohlen:
Bring mir jede, die verzweifelt
Dort am Fluss ist mit nach Hause!“

Zögernd steht sie an der Schwelle –
Unbekannt ist ihr das Zeichen –
Von der Tür des großen Rabbi.
Mitleidvoll wird sie empfangen.

Und an dieser Stelle müssen
Wir der Einsicht und der Liebe
Beider Seiten überlassen,
Ob sie sich zusammenfinden.

http://de.wikisource.org/wiki/Donna_Clara
Rosen, Mandelblüten, Lilien:
Wie erstarrt stehn sie im Mondschein.
Claras blasses Antlitz färbt sich
Plötzlich tief mit Zornesröte.

„Schändlich habt Ihr mich betrogen!“
Finster senkt sie ihre Stirne,
Wütend stampft sie auf den Boden.
„Nie will ich Euch wiedersehen!“

„Mutter, eng wird mir das Mieder.“
„Wer von allen Rittern ist es?“
„Niemals werd ich es bekennen!“
„Wirf dich vor dem Vater nieder!“

„Geh mir aus den Augen, Dirne,
Du bist nicht mehr meine Tochter!“
Und sie schnürt ein kleines Bündel
Und verlässt das Schloss im Frühlicht.

Ziellos streift sie durch die Straßen
Saragossas, hier und dorthin.
Was soll sie jetzt nur beginnen?
Und sie wendet sich zum Ebro.

Lange steht sie unentschlossen.
„Warten will ich, bis am Abend
Mich die Wasser mit sich nehmen.“
Und sie hockt sich kläglich nieder.

Frauen kommen mit der Wäsche.
„Wer ist die? Sie ist so kostbar
Angezogen und so traurig“,
Tuscheln sie und gehen näher.

Und die eine: „Oft schon hat mir
Meine Herrin streng befohlen:
Bring mir jede, die verzweifelt
Dort am Fluss ist mit nach Hause!“

Zögernd steht sie an der Schwelle –
Unbekannt ist ihr das Zeichen –
Von der Tür des großen Rabbi.
Mitleidvoll wird sie empfangen.

Und an dieser Stelle müssen
Wir der Einsicht und der Liebe
Beider Seiten überlassen,
Ob sie sich zusammenfinden.

Ingrid von Heiseler: Gesammelte kleine Texte

Gesprächstherapie
Die Wirkung der Gesprächstherapie beruht darauf, dass die Klientin so viel Mühe darauf verwenden muss, ihr Problem der Therapeutin verständlich zu machen, dass sie es schließlich selbst versteht.

Erwartung
Wenn ich etwas (Neues) unternehme, tue ich erst einmal so, als ob ich glaubte, es würde gelingen. Wenn es dann wirklich gelingt, bin ich überrascht.

Glaube
Ja, warum eigentlich nicht an Gott glauben, warum kein religiöser Mensch sein?
Ich fühle mich nach meiner Knieoperation – obwohl ich wieder gut laufen kann – schließlich auch an Stöcken sicherer.

Emuna oder Humor
Eine vor Kurzem aufgefundene Fassung des Buches BERESCHIT bringt folgende Ergänzung (nach 440 vor unserer Zeitrechnung abgefasst, zu Genesis 1,19 „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis dass du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.“): „Doch damit du nicht verzweifelst, gebe ich dir die Wahl zwischen EMUNA, das ist Glaube, und HUMOR. Wähle gut!“
(In meinem kleinen Wörterbuch finde ich dt. Humor > hebr. Humor. Im großen Online-Wörterbuch Deutsch-Hebräisch – http://www.milon.li/ – gibt es das Wort nicht. Uri schreibt: Humor heißt auch hebräisch Humor.)

Stellvertretung
Ich lerne eher durch Abschreckung als durch „gutes Beispiel“: Seit ich aus XY zurück bin, räume ich eine Schublade nach der anderen auf, und seit ich auf der Goldenen Hochzeit war, versuche ich mein Gewicht zu reduzieren.
Schließlich habe ich gelernt: Ich kann nur mich selbst und nicht andere ändern. Lieber als Schubladen aufräumen wäre mir, wenn A ihre Wohnung aufräumen würde, und lieber als auf 58 kg runterzukommen, wäre es mir, wenn ich denken könnte, diese alten dicken Frauen würden sich vernünftig ernähren und ihr Gewicht auf ein vernünftiges Maß reduzieren.
Es ist so eine Art Stellvertretung – die mir aber Nutzen bringt.

Telefonseelsorge (zum 40. Jahrestag in Wolfsburg)
Meine älteste Erfahrung mit der TS ist, dass mich ein Freund, als Ferngespräche noch teuer waren, regelmäßig aus Berlin anrief, wenn er Dienst bei der TS hatte.
Die zweite ist eine sogenannte persönliche Erinnerung. Die Mutter brauchte Pflege. Ich würde das nicht schaffen – noch war ich berufstätig und die Beziehung war in ihrem Alter schlecht geworden. Dass ich da nichts Unmögliches von mir zu verlangen brauchte, sollte die TS bestätigen. Als ich dachte, der Besitzer der alten Männerstimme hätte verstanden, sagte sie mit einem kleinen Seufzer: „Ja, es ist keine Liebe mehr unter den Menschen!“
Die dritte Erfahrung war die: Eine fremde junge Frauenstimme fragte, ob sie bei mir bei der TS sei. Ich erklärte ihr, sie habe wohl falsch gewählt, und da sagte sie: „Ihre Stimme klingt so nett, kann ich nicht Ihnen erzählen?“ Nun ja, ich war gerade nicht eilig und kann ja immer auf meine GT-Ausbildung zurückgreifen. Sie legte eine halbe Stunde später offenbar zufrieden auf.

Weisheiten
– Das Wohlbefinden hängt davon ab, inwieweit es gelingt, die Illusion „alles ist in Ordnung“ herzustellen, d.h. wie viel Kraft eine zu einem gegebenen Zeitpunkt aufbringt, diese Illusion herzustellen und an ihr festzuhalten.
– Wieso gehen wir davon aus, dass Heilsein der Normalzustand wäre? Wenn wir das tun, müssen wir leider feststellen, dass wir unaufhörlich von diesem „Normalzustand“ abweichen. Der logische Schluss aus dieser Feststellung ist: Nicht Heilsein, sondern Defizitärsein ist der Normalzustand.
– Jedes Paradies hat eine örtliche und eine zeitliche Koordinate. Deshalb kann man, ebenso wenig wie man in denselben Fluss steigen kann, in dasselbe Paradies zurückkehren.
– Alter ist eine Behinderung unter vielen anderen. Nur gut, dass sie erst spät im Leben eintritt!
– Paare sind deshalb glücklicher als Singles, weil sie sich weniger langweilen. Wenn ihnen nichts einfällt, können sie immer noch streiten.
– Ihr wisst doch: Selten – oder nie? – wird etwas so schön, wie wir hoffen, und so schlimm, wie wir fürchten.

Wettbewerb in politischer Unkorrektheit?
Ich hatte einmal an prominenter Stelle vorgeschlagen, einen Wettbewerb in politischer Unkorrektheit zu veranstalten. Leider ist niemand auf den Vorschlag eingegangen. Hier ein Beitrag zu einem Wettbewerb, der leider auch in Zukunft nicht stattfinden wird:
Flüchtlinge
Wir sollten alle Reisenden der Einfachheit halber „Flüchtlinge“ nennen: diejenigen, die aufbrechen, weil ihr Leben bedroht ist, wie auch die, die aufbrechen, weil sie sich der Illusion hingeben, am Ort jenseits des Meeres wäre das Leben bequemer als in ihrer Heimat. Ach stimmt ja, die werden ja schon „Flüchtlinge“ genannt. Dann schlage ich eine weitere Erweiterung des Begriffs vor: Wenn ich mit der Bahn zu einer Feier reise, bin ich ein Flüchtling vor der Feierlosigkeit bei mir zu Hause und anschließend bin ich ein Flüchtling vor der Menschenansammlung in die Ruhe meiner Wohnung. Ständig sind Menschen hierhin und dahin auf der Flucht, sei es vor der Ruhe oder sei es vor dem Stress: Sie fliehen in den Abenteuerurlaub und sie fliehen an vermeintlich ruhige Sandstrände. Alles Flüchtlinge!